Es gibt vermutlich nicht viele Rohingyas, die Comics zeichnen. Angehörige der „am meisten verfolgten Minderheit der Welt", wie sie von den Vereinten Nationen bezeichnet werden, haben dafür meistens weder die Mittel noch die Zeit oder Muße. Eher sind sie damit beschäftigt, für ihr tägliches Überleben zu sorgen. In ihrer Heimat, dem mehrheitlich buddhistischen Myanmar, werden Angehörige der Rohingya seit Jahrzehnten verfolgt, die Spannungen bestehen seit der britischen Kolonialzeit. 2017 wurden über 10.000 Rohingyas bei einer brutalen Militäroperation getötet, Frauen und Kinder vergewaltigt. Über 700.000 Menschen flohen in das benachbarte Bangladesch. In Indien leben offiziellen Zahlen zufolge ungefähr 40.000 Rohingyas. Einer davon ist Sadiq Khan. An diesem Tag im November 2019 sitzt der 30-Jährige barfuß neben seiner Tochter auf einem staubigen Steinboden und beugt sich über eine kleine Holzbank. Er schreibt an einer Geschichte. Sie soll die Grundlage für sein erstes Comic bilden.
Sadiq Khan und seine Tochter.
Seit 2012 lebt Sadiq Khan mit seiner Frau und den vier Kindern in Nuh, einer Kleinstadt südlich von Delhi. Sechs Rohingya-Siedlungen gibt es hier, 400 Familien, knapp 1400 Flüchtlinge. Die Menschen verfügen über keinen Strom, kein fließend Wasser. Sie leben in einer der für die Rohingyas typischen Bambushütte, mit Wänden aus Pappkarton, die sie kaum vor Regen und Kälte schützt.
In Indien werden die Rohingyas zwar nicht auf der Straße verprügelt wie in ihrer Heimat Myanmar. Diskriminierung erleben sie im mehrheitlich hinduistischen Indien aber trotzdem. Das beginnt damit, dass sie vom indischen Staat nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Deshalb dürfen ihre Kinder zwar in die Schule gehen, aber keine Prüfungen ablegen. Den Kindern droht damit das Schicksal ihrer Eltern, eine Zukunft als Tagelöhner. Comics, würde man meinen, sind unter diesen Umständen Luxus. Sharad Sharma sieht das anders. Der Karikaturist und Comic-Aktivist bedauert, dass Stiftungen und NGOs in Schwellenländern kaum Fördermittel für kreative Ausdrucksmöglichkeiten ausgeben. Denn er sieht in Comics ein wirkmächtiges Mittel, um Geschichten zu dokumentieren - und damit Veränderung zu bewirken. In den Neunziger Jahren fing er deshalb an, Comic-Workshops in den ländlichen Regionen Indiens zu veranstalten.
Ein paar Jahre später war die Graswurzelbewegung „World Comics India" geboren. Unter dem Motto „Anybody can draw" arbeiten er und seine Kolleg:innen mit Obdachlosen und Straßenverkäufern in Indien, Sri Lanka oder Pakistan, oder mit Immigranten in Großbritannien und in der Schweiz. Immer geht es ihnen darum, „den stimmlosen eine Stimme zu geben" - auch in der Arbeit mit den Rohingyas. „Diese Menschen sind von der Gesellschaft ausgeschlossen, sie werden stigmatisiert, Indiens rechte Regierung will sie nach Birma zurückschicken. Niemand interessiert sich für ihr Leben, sie sind auf sich alleine gestellt." Deshalb möchte Sharad den Rohingyas an diesen zwei Tagen im November die Gelegenheit geben, von ihrem Leben zu erzählen - in Form von Comics. Angekommen im Camp, verteilt Sharad Blätter auf den einfachen Holztischen, legt Radiergummis aus. In der Hütte mit schummriger Beleuchtung versammeln sich nach und nach rund dreißig Jungen und Mädchen, Männer und Frauen. Die Kinder setzen sich auf den Steinboden, auch die Mädchen in ihren glitzernden Tüllkleidern in bunten Farben. Manche tragen Schmuck, Wimperntusche und Lidschatten. Die Schuhe werden vor der Hütte ausgezogen, innen wurde der Boden vorher noch einmal gekehrt.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde erklärt Sharad den Teilnehmenden, wie man aus Kreisen Gesichter und aus einem „T" das Grundgerüst für Augen- und Nasenform zeichnet. Je nachdem, wie das Dach des „T" liegt, hat das Gesicht einen anderen Ausdruck: Es ist wütend, traurig, fröhlich oder skeptisch. Sharad spricht mit ihnen über ihre Ideen, hilft ihnen, Geschichten zu entwickeln, zeigt ihnen wie sie mithilfe von Sprechblasen Worte und Gedanken ausdrücken und ihre Geschichten auf vier Panels verteilen können. „Viele haben Angst vorm Zeichnen", sagt er. „Die Leute glauben, sie können nicht zeichnen."
Aus Kreisen werden Gesichter.
Nach ein paar Stunden zeichnen dann aber alle. Auch die, die sich anfangs zierten: Männer mit langen Bärten, Takke auf dem Kopf, der traditionell muslimischen Kopfbedeckung, und langen Gewändern. Sie beugen sich über die Bänke genauso wie die Frauen in ihren schwarzen Hijabs.
Anwar Arkani, der Arabischlehrer in dem Camp, zeichnet in seiner Geschichte, wie die Kinder ihn fragten, ob er nicht auch Englisch unterrichten könnte. Einige Mitglieder der Gemeinde sind dagegen, aber er überzeugt sie mit einem Sinnbild: Bäume bräuchten zum Wachsen sowohl Wasser als auch umfassende Pflege. Daraufhin stimmen die Gemeindemitglieder zu, die Kinder bekommen fortan auch Englisch-Unterricht.
Die 13-Jährige Asmeeda zeichnet ein Comic über ihren verzweifelten Versuch, Schulprüfungen abzulegen. „Die Lehrer haben mir gesagt, ‚Du bist nicht einmal Inderin, warum solltest du dann lernen?'", heißt es darin.
Die Menschen in dem Camp sind keine geübten Zeichner:innen. Fast alle Zeichnungen wirken wie von Kinderhand, unmittelbar und auf das Wesentliche reduziert - und genau darin liegt ihre Stärke. Mohammed Faizul Haq, der täglich zehn Stunden auf dem Gemüsemarkt arbeitet und dafür umgerechnet knapp 3,50 Euro verdient, verbildlicht seine Angst, von der indischen Polizei gefoltert zu werden - so wie er es in seiner burmesischen Heimat erfahren hat. In seinem Comic ist ein Mann mit einem weinenden Kind zu sehen, im Hintergrund gefährlich aussehende Menschen mit großen runden Augen, einem schiefen Blick und zusammengezogenen, schwarzen Augenbrauen. Auch ohne die Sprechblasen versteht man, dass der Mensch mit den hervortretenden Rippen an Hunger leidet, dass er von einem anderen mit einem Schlagstock bedroht wird und im letzten Panel mit seiner Familie sein Haus verlässt.
Über die Siedlung hat sich eine schwarze Nacht gelegt, als der Workshop sich am zweiten Tag dem Ende zuneigt. Rund 25 Comics sind entstanden, die Zeichner:innen präsentieren stolz ihre Werke.
Nur Sadiq Khan, der vierfache Vater, sitzt immer noch selbstvergessen auf dem Boden und zeichnet. Sein Talent ist unübersehbar, in vier Panels erzählt er eine lebendige, bildreiche Geschichte: Eine Tochter kommt von der Schule nach Hause und berichtet, wie sie von anderen geschlagen wurde. Der Vater will die Schläger anzeigen, aber seine Frau hält ihn ab: „Wenn wir sie anzeigen, werden sie uns töten." Stattdessen ergreift die Familie mit einem Karren die Flucht aus Myanmar, in der Hoffnung auf ein freieres Leben.
Gewaltfreier ist Sadiqs Leben in Indien bisher schon. Aber ob seine Tochter auch die Freiheit haben wird, einen Schulabschluss zu machen, ob sie ein besseres Leben als ihre Eltern haben wird? Unter der hindu-nationalistischen Regierung von Narendra Modi werden Muslime - die immerhin 14 Prozent im Land ausmachen - zunehmend diskriminiert. Besonders trifft die Diskriminierung illegale muslimische Einwanderer wie die Rohingyas: 2019 wurde ein Gesetz erlassen, das es muslimischen Immigranten erschwert, die indische Staatsbürgerschaft zu erhalten. „Stateless not voiceless" heißt der Sammelband der Comics, die an diesem Wochenende entstanden sind. Sharad Sharma will damit Aufmerksamkeit bewirken und den Druck auf die indischen Behörden und die Regierung erhöhen, die Rohingyas als Flüchtlinge anzuerkennen. Er glaubt unbeirrt daran, dass Comics große Wirkung haben können. „Wenn diese Geschichten festgehalten werden, kann jeder die vielen Probleme sehen, mit denen die Rohingyas seit der Flucht aus Myanmar konfrontiert sind. Jeder kann es erfahren, also kann auch jeder helfen."
** Englische Übersetzung zitiert aus "Stateless not Voiceless".