Schönheit, das ist, wenn ein junger Mann 25 Jahre nach dem Fall der Mauer an den Zaun aus rostigem Stacheldraht tritt, der einst die Grenze des Ostblocks markierte; es wurde damals geschossen, wenn Menschen aus der DDR hier den Weg in die Freiheit suchten. Der Mann nun tritt mit rußgeschwärztem Gesicht an den alten Zaun, wo ein bulgarischer Grenzbeamter ihm den Weg versperrt, ihn umringen Kameras und Mikrofone, dahinter drängen Dutzende junge Menschen, für einen Moment herrscht angespannte Stille: „Wir wollen den neuen Zaun sehen", sagt der Mann. „Wir werden euch nicht durchlassen", sagt der Grenzbeamte. Die Menge ruft, die Mauer muss weg, wie damals, und dann: No border, no nation, stop deportation. Das ist der Schlachtruf von heute.
Dann ziehen sie, Bolzenschneider geschultert, den steinigen Weg, der sich durch die karge Landschaft schlängelt, hinauf, eiligen Schrittes, als hätten sie keine Zeit zu verlieren.
Schönheit. Sie zu inszenieren ist eine der großen Möglichkeiten der Kunst. Im Politischen findet man sie in Momenten, die Frieden stiften, Völker verständigen, in Momenten der Anerkennung von Schuld und der Versöhnung. Der ganz großen Geste.
Das Zentrum für Politische Schönheit nun ist eine Gruppe von Aktionskünstlern, die als „Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit" verhindern will, dass das „Gedenken des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert wird". Sie türmten vor dem Brandenburger Tor 16.000 Schuhe auf, um der Opfer von Srebrenica zu gedenken; sie setzten ein Kopfgeld von 25.000 Euro auf die Eigentümer des Waffenherstellers Krauss-Maffei aus. Ihre Aktionen sind spektakulär, öffentlichkeitswirksam, provokant.
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hatte das Maxim-Gorki-Theater sie eingeladen, für sein Festival „Voicing Resistance" eine Aktion zu entwickeln, die sich mit neuen Grenzen in Europa auseinandersetzt. Diese Aktion endete am 9. November, 300 Meter vor dem Grenzzaun, der seit vergangenem Jahr Bulgarien von der Türkei trennt, drei Meter hoch, bewehrt mit Natodraht, 30 Kilometer lang. Der Zaun soll Flüchtlinge davon abhalten, über den Landweg illegal in die EU zu kommen. Der Zaun sorgt vor allem dafür, dass sie den gefährlicheren Weg nehmen, auf lecken Booten über das Meer.
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„Während in Berlin inhaltsleere Ballons in die Luft steigen und die üblichen Gedenkenträger nostalgische, verschleiernde und sedierende Reden halten, bringen wir die europäische Außenmauer mit Bolzenschneidern zu Fall! Hunderttausende Menschen sehnen hinter den europäischen Mauern einen neuen Mauerfall herbei." Mit diesem Aufruf im Internet hatte die Aktion „Erster Europäischer Mauerfall" begonnen: große Worte. Die Schwere nahmen Grafiken im Ikea-Bauanleitungsstil, die zeigten, wie der Zaun mit einem Bolzenschneider zu durchtrennen sei, dazu eine Amazon-Packliste für „friedliche Revolutionäre": Arbeitshandschuhe der Schnittfeste 5, Regenponchos, Müsliriegel und, zur Tarnung bei der Einreise, Deutschlandtrikot, Vogelbestimmungsbuch, Fernglas.
Wie großartig die Gruppe das Verwirrspiel beherrscht, wie subtil sie ihre Marker setzt, die „Achtung, Inszenierung" signalisieren, zeigte die Mischung derer, die dem Aufruf folgten und Freitagnachmittag am Gorki-Theater in zwei Reisebusse stiegen, um tatsächlich zur EU-Grenze aufzubrechen: der junge Drehbuchautor, der Netzaktivist, die Sozialwissenschaftsstudentin, Abgeordnete der Piraten, Castorgegner, Theaterpädagogen.
Wie schnell das Fehlen oder Nicht-verstanden-Werden dieser Marker die Kunst der Gruppe in Frage stellen kann, zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ab: Als die Reiseteilnehmer im Foyer des Theaters ihre Bolzenschneider auf einen Haufen legten, damit ein Auto sie sicher am Staatsschutz, der draußen wartete, vorbei und später in den Bus bringen konnte, waren die Zeitungen bereits Tage lang voll von Empörung. Das Zentrum für Politische Schönheit hatte als Prolog zu der Reise die Kreuze zum Gedenken an die Mauertoten am Tiergarten verschwinden lassen, um sie „vor den Gedenkfeiern zum 9. November in Sicherheit zu bringen", in die Enklave Melilla, wo heute Menschen an Grenzen sterben.
„Kunst muss weh tun", ist einer der Grundsätze der Gruppe. Und es tat weh. Shermin Langhoff, Intendantin des Gorki-Theaters, das mit der Entwendung der Kreuze nichts zu tun gehabt haben will, nutzte die Abfahrt der Busse, um sich bei den Angehörigen der Maueropfer zu entschuldigen. Inhaltlich verteidigte sie die Aktion. „Gedenken kommt von denken", sagte sie. Und griff den Ereignissen vorweg, als sie hinzufügte, man müsse sich gegen die Kriminalisierung eines künstlerischen Projekts wehren, wolle man nicht zurück zu den moralisierenden Diskussionen der 70er-Jahre. Nur einen Tag später musste sie sich von Innensenator Frank Henkel drohen lassen, man werde die Rolle ihres Theaters genau untersuchen. Die Freiheit der Kunst habe Grenzen.
Da standen die Busse bereits an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien, wurden stundenlang durchsucht, dann von der Polizei bis nach Bulgarien begleitet, wo ein Referent des Innenministers zustieg, um vor Geld- und Freiheitsstrafen zu warnen, sollte man der Grenze näher kommen als 300 Meter. Ob die deutschen Sicherheitsbehörden etwas mit dem Auftritt des Referenten zu tun hatten, will nun ein Bundestagsabgeordneter der Linken mit einer schriftlichen Frage an das Bundesinnenministerium herausfinden.
Am Ende sollte also jeder seine Rolle in dem Stück „Erster Europäischer Mauerfall" bekommen. Weniger glamourös war die der Reisegruppe, die ihre Regieanweisung vorab per Mail erhielt. Ihre Begeisterung, die gleiche Route rückwärts zu nehmen, auf der viele Flüchtlinge aus Syrien auf Lkw-Radachsen kauernd nach Deutschland kommen, drohte zermürbt zu werden von langen Stunden ohne Schlaf auf Straßen voller Schlaglöcher, Mahlzeiten aus Erdnüssen und Dosenbier, hastig gerauchten Zigaretten im fahlen Licht der Raststätten. Kunst muss weh tun.
Vielleicht waren diese Statisten die große Schwäche der Aktion. Denn mehr als Statisten durften sie nicht sein, bis zum Schluss wussten sie nicht, was an der Grenze passiert, nur ahnend, dass es schlimm werden könnte: Man riet ihnen, sich die Telefonnummern zweier bulgarischer Anwälte auf den Arm zu schreiben.
Und dann, als es tatsächlich nicht mehr weiterging, die 300-Meter-Grenze erreicht war, wo der Chef der Grenzpolizei mit seinem Trupp und ein paar Schäferhunden den „friedlichen Revolutionären" Einhalt gebot; als Philipp Ruch, der junge Verhandlungsführer am Zaun, zur Seite trat und verkündete, seine Kunst sei hier beendet, er könne nichts mehr tun; da blieben diese Statisten ohne Regie und wussten sich nicht anders zu helfen, als die ewig gleichen Protestgesänge anzustimmen, die derzeit jede Flüchtlingsdemo im Lande begleiten: „refugees are welcome here".
Es folgte ein minutenlanges unschönes Geschiebe mit den Grenzpolizisten in Kampfmontur. Dafür 40 Stunden Fahrt? Verschenkt war der Moment, in dem die inszenierte politische Schönheit zu einer wahren hätte werden können. Damit war die Grenze der Aktion ausgelotet.