Sieben Uhr dreißig, U2-Station Schottentor. Die Türen schließen sich. Die Waggons sind voll. Voll für U2-Verhältnisse – fast alle Sitzplätze sind besetzt. In der Krieau bricht der Zug aus der Dunkelheit aus. Die Morgensonne steht über den Feldern, die Betontrassen werfen Schatten auf das unbebaute Land. Nach Aspern Nord legt sich der Wagen in die Kurve. 18 Promille misst die Steigung hier, wie in der Achterbahn. Die letzten Meter sind eine kerzengerade Strecke. Endspurt – bis in die Seestadt.
“Das eine kann ohne das andere nicht sein”
Seit 2013 fährt die U2 in die Seestadt. Dass die U-Bahn ab der Krieau eher eine O-Bahn ist, hängt mit den Kosten zusammen. Über der Erde zu bauen ist billiger, als Tunnel zu graben. Die U-Bahn war der Grund, wieso viele in die Seestadt gezogen sind. “Öffis vor Auto”, sagt Gregor Stratil-Sauer und betont damit das Motto der Seestädter Infrastruktur. Sauer arbeitet bei der MA 18 und ist einer der leitenden Raumplaner Wiens. Mit der U-Bahn sei die teuerste, aber leistungsfähigste Variante gewählt worden, so Sauer. U-Bahn und Besiedlung seien symbiotisch. “Das eine kann ohne das andere nicht sein.”
Der Ausbau der U2 bis zur Seestadt kommt generell gut an. Adjektive wie die “angenehmste”, “störungsresistenteste” und “sauberste” U-Bahn, werden von den Passagieren verwendet, um sie zu beschreiben. Auch Leopoldine hat an der U-Bahn nichts auszusetzen: “Ich komm’ mit ihr zurecht. Hauptsache sie bringt mich von A nach B.” Die 63-Jährige sitzt alleine auf einem Viererplatz. Lepoldine hat gerade ihren Sohn in der Seestadt besucht und fährt zurück in die Innenstadt. Man merkt: sie ist die lange Fahrt gewohnt – sie hat ein Buch dabei. Was ihr an der U2 nicht gefällt: Die Intervalle. Nur jede zweite U-Bahn fährt in die Seestadt, die anderen nur bis Aspernstraße. Um die zehn Minuten muss man dort auf den nächsten Zug warten. Nachts sogar eine Viertelstunde. Das sei zu lang. “Wenn eine Garnitur ausfällt, stehen alle da wie Deppen“, so Leopoldine. In der U2 sitzen zwischen Apernstraße und Seestadt wenige Menschen, darum fährt die U2 hier ein doppeltes Intervall. Die Wiener Linien dimensionieren eine U-Bahn-Linie nach dem stärksten Streckenabschnitt. Gibt es in Zukunft mehr Fahrgäste, werden die Intervalle kürzer werden.
U-Bahn ohne Menschen
Nicht nur die knapp 6.000 Passagiere aus der Seestadt müssen täglich auf die U-Bahn warten. Umgekehrt hat diese auf die Bewohner gewartet. Geplant war, dass U-Bahn und Seestadt gleichzeitig fertig sind. Doch die Wirtschaftskrise kam dazwischen. Das war 2008. Der Wohnungsbau und jener der U-Bahn fielen auseinander. Die U-Bahn war fertig, aber in der Seestadt noch keine Menschen.
Macht eine U-Bahn ohne Menschen Sinn? Ja, sagen die Wiener Linien. “Es hätte keinen Sinn gehabt, den U-Bahn-Bau zu verschieben, nur weil sich der Bau der Häuser verzögert,” meint Karl Bergner, von den Wiener Linien. “Dann hätten wir viel höhere Baukosten gehabt.” Und mit einer fertigen U-Bahn könne man nicht einfach sagen „Ich fahre nicht”, so Bergner.
Dass die U-Bahn so früh fertig gewesen ist, freut Cheryl. Sie wohnt seit 15 Jahren in Essling, einer umliegenden Gemeinde. Cheryl arbeitet im ersten Bezirk. Seit der U2-Verlängerung in die Seestadt sei die Anbindung in die Stadt deutlich besser. Und sie freue sich, dass noch relativ wenige Menschen in dem Gebiet leben. “Jetzt findet man immer noch einen Platz”, lacht sie. “Wenn irgendwo Menschen wohnen, müssen wir dorthin fahren.”, sagen die Wiener Linien.
Die Zuverlässige
Denn es gehe um das Gesamte. Auch dass die U2 sich wegen der wenigen Passagiere wirtschaftlich nicht rechnet, sei kein Problem. Und die U2 ist die zuverlässigste Linie Wiens. Das liegt an der bisher geringen Auslastung. Wenn wenige Menschen mit einer U-Bahn fahren, sind die Umsteigezeiten in den Stationen kürzer und die U-Bahn kann gemäß Zeitplan wieder abfahren.
Pizza, Bus oder U-Bahn
Vierzehn Uhr dreißig, Station Apernstraße. Raus aus der U-Bahn und auf den Bus 84A warten. 14 Minuten auf der Anzeige. Ein Mann stöhnt und fragt seine Tochter: “Willst du noch eine Pizza vom Imbiss?” Philipp Naderer kennt das. Der junge Softwareentwickler lebt seit 2015 in der Seestadt. Der Grund für seinen Umzug? Das kleine rothaarige Wesen, das freudig ihre Socken aus dem Kinderwagen wirft. Für Familien, die große, bezahlbare Wohnungen suchen, ist die Seestadt ideal. Philipp Naderer ist derzeit in Karenz. Davor ist er jeden Tag eine Stunde in die Arbeit gefahren. Fast jeder zweite Seestädter pendelt, so eine Studie.
Ein Bus, der zweckentfremdet wird
Anstatt mit der U-Bahn bis zur Endstation Seestadt durchzufahren, steigen in der Aspernstraße viele in den 84A um. Wieso? Die U-Bahn fährt kurz vor der Endstation eine Schleife. Der Bus hingegen direkt. Mit dem Bus ist man von der Station Aspernstraße in sechs Minuten mitten in der Seestadt. Dort, wo die Menschen wohnen. Im Gegensatz zur U-Bahn-Station. Die liegt außerhalb. Und nur jede zweite U-Bahn fährt bis zur Endstation.
Wenn das nicht so ist, wollen viele nicht auf die nächste warten und versuchen es mit dem 84A. Meist vergeblich. Die Stiegen hinunter gehetzt, sieht man oft nur die Rücklichter des abfahrenden Busses. “Das macht es zach”, sagt Softwareentwickler Naderer. 15-Minuten Intervalle seien lang. Und Bus und U-Bahn nicht aufeinander abgestimmt. “Du kannst dich entscheiden: Gehst du wieder rauf und fährst mit der nächsten U-Bahn bis zur Seestadt oder wartest du eine Viertelstunde?” Naderers Lösung: Ein Chatbot. Das von ihm entwickelte Programm antwortet in SMS-Manier, wann was wo losfährt.
Und der Bus ist immer voll. Fast jeder zweite Seestädter fährt öfter mit dem Bus, seit er hier wohnt, sagt eine Studie. Da kann es passieren, dass Kinderwagen Tetris spielen müssen. Oder nicht mitgenommen werden. Naderers Vorschlag: Mehr Busse fahren lassen – vorallem in den Stoßzeiten. Oder es müsse jede U2 in die Seestadt fahren. Die Wiener Linien kontern: Der 84A solle nur eine “Feinerschließung” zwischen den kleineren Orten sein – er wird jetzt zweckentfremdet. Auch Anke und Elisabeth wissen Bescheid.
Sie kommen gerade von einem Geburtstagsfest und wohnen gar nicht in der Seestadt. Sie finden die Busverbindungen ganz schlecht. Außerdem sei die Lage der U-Bahn nicht gelungen. “Das ist der Hammer”, sagt Elisabeth. Der Weg sei viel zu lang und zu dunkel. “Da kann man in Ruhe abgekabelt werden”, meint Anke. “Aber man geht trotzdem.”
Der Traum einer autofreien Stadt?
Nutzen statt Besitzen und in Folge weniger Autos. Das ist das Mobilitätskonzept der Seestadt. Hier gibt es 0,7 Parkplätze pro Wohnung. In Wien sind es zwei pro Wohnung. Das sei die Zukunft, finden Andrea und Ewald. Wir treffen sie zufällig kurz vor Mitternacht in der U-Bahnstation. Die studierten Logistiker sind überzeugt: die Verdrängung von Parkplätzen und Autos sei sinnvoll – die Leute verstünden es nur noch nicht. “Sie müssen nur lang genug im Stau stehen”, sagt Andrea, “aus dem Leid lernen sie.” “Die Seestädter wussten, worauf sie sich eingelassen haben”, meint Ewald.
Viele Menschen seien mit dem modernen Mobilitätskonzept nicht einverstanden, würden aber trotzdem hinziehen. “Und sie denken, es wird sich Richtung Pro-Autofahrer ändern, wenn man nur die richtige Partei wählt.“ Ähnlich war es auch bei Philipp Naderer, dem jungen Softwareentwickler.
Er hat vom Konzept gewusst und darauf vertraut. Als eingefleischter Innenstädter kannte er die U-Bahn als schnelles Transportmittel. In der Seestadt sah es dann anders aus. Dort kam er erst auf die Idee, sich ein Auto zu kaufen. Das Konzept funktioniert in der Praxis nicht, wenn du es bequem willst.”
Zwei-Klassen-Parkgesellschaft
Auch mit Auto hat es ein Seestädter schwer. Er kommt zwar schneller in die Stadt, muss dafür aber teure Sammelgaragen und kaum freie Parkplätze in Kauf nehmen. Satte 90 Euro kostet ein Platz hier im Monat – und das am Ende der Stadt. “Wenn ich in der Innenstadt so viel zahle, tu ich das lieber, als hier draußen”, sagt Naderer. Neue Bauträger werben nun mit eigenen Garagen unter dem Haus. Es entsteht eine Zwei-Klassen-Parkgesellschaft. Das sieht man gut in der Johann-Kutschera-Straße.
Dort hat sich eine Schlange an Autos gebildet. Stoßstange an Stoßstange. Der Albtraum für ungeübte Einparker. Nicht nur die Seestädter, sondern auch Pendler parken an dieser Straße. Sharing-Möglichkeiten oder einen Autoverleih gibt es nicht. Car2go’s und Uber-Fahrer sucht man vergeblich. Auch wenn man sich kennt und den Nachbarn das Auto leiht – immer funktioniert das nicht. Dann muss der einzige Supermarkt herhalten. Rund um Feiertage sieht man halbleere Regale – und muss auch mal zur ungeliebten Milchsorte greifen. Zumindest gibt es Lastenräder.
Rad am See
“Das Radkonzept ist
super mit den E-Bikes und den Lastenrädern. Ohne die wäre es schwer, weil wir
kein Auto haben. Die Lastenräder sind eine Erleichterung, um mehr einzukaufen”,
erzählt Philipp Naderer.
In der Seestadt gibt es ein Fahrradverleihsystem, Abstellplätze und mehrere
Kilometer Radwege. Das kommt bei den Seestädtern gut an, meint Naderer. “Auch
bei Karl-Heinz”, sagt er und winkt dem Mann zu, der im Hemd auf einem Roller an
uns vorbeifährt. Über 80 Prozent sind mit der Situation sehr zufrieden und
häufiger als zuvor mit dem Drahtesel unterwegs, sagt eine Studie. Und bald
werden die Bewohner in einen Bus ohne Fahrer steigen.
Die Maschine lernt
Er wird elf Personen durch die Seestadt transportieren. Das Projekt “auto.Bus Seestadt” ist eine Kooperation der Wiener Linien mit einer Forschungseinrichtung und einem Bushersteller. Kostenpunkt: 1,5 Millionen Euro, die Hälfte zahlt das Verkehrsministerium. Wie der autonome Betrieb funktionieren soll? “Machine Learning” ist die Antwort. Der Bus soll lernen, Personen und Objekte zuverlässig zu erkennen. Umgekehrt können sich die Passagiere an autonome Verkehrsmittel gewöhnen.
Wie Versuchskaninchen fühlen sich die Seestädter nicht, meint Gregor Stratil-Sauer von der MA18. “Es ist nicht so tragisch, wie getan wird”, sagt er. “Ein gewisser Pioniergeist ist den Neo-Seestädtern aber durchaus anzuraten.” Im Sommer 2017 startet das Projekt. Nach rund einem Jahr Entwicklungszeit soll der selbstfahrende Bus 2019 in der Seestadt fahren. Da fährt dann schon die Schnellbahn.
Die soll schon 2018 in die Seestadt kommen. Die Station in der Hausfeldstraße wird nach Aspern Nord verlegt – somit näher an die Seestadt. Auch zwei Straßenbahnlinien steuern künftig die Seestadt an. Die Linie 25 soll die Seestadt ab 2022 mit Floridsdorf verbinden. Für die Linie 26 ist noch kein genauer Zeitpunkt festgelegt. Die Voraussetzung: mehr Menschen in der Siedlung. Bis dahin wird die Trasse für die Straßenbahnen erstmal freigehalten. Auch eine Park & Ride-Anlage mit 1.000 Stellplätzen soll kommen. Sie soll ab Ende 2017 besonders Pendlern dienen, die über die Schnellstraße S1 in die Seestadt kommen.
“Wir waren zu naiv”
In der Stadt am See treffen viele Interessen aufeinander und verschiedene Ziele werden verfolgt. Die Stadtentwicklung will das Gebiet attraktiv machen und vermarkten. Die Stadt Wien wiederum braucht mehr Wohnraum und das schnell – da kommt die Politik in den Verkehr. Die Wiener Linien möchten möglichst effizient anbinden. Wenn viele auf derselben Straße fahren, kommt es zu Stau.
Philipp Naderer ist desillusioniert. Er und seine Familie sind hergezogen, weil sie gedacht haben, es würde einfach werden und dass die Öffi-Verbindung passen wird. “Was wir auch unterschätzt haben, ist die Distanz zur Stadt. Seestadt ist nicht Wien, sondern eine Vorstadt.” Unter anderem aus diesem Grund zieht er aus der Seestadt. “Wir waren zu naiv”, so Naderer.
Nachts unterwegs in der Seestadt
Null Uhr Fünfzehn. Die Türen schließen sich. Die Waggons sind leer. Leer sogar für U2 Verhältnisse. Die Station Seestadt ist hell ausgeleuchtet, rundherum finstere Nacht. Die Schatten der Betontrassen sind nicht mehr sichtbar, auf das unbebaute Land scheint der Mond.
Vereinzelt nutzen Menschen die Nacht-U-Bahn. Nachtbusse gibt es keine in der Seestadt. Nur Sammeltaxis zum Bestellen. Deswegen sind die Menschen auf die violette U-Bahnlinie angewiesen. Fünf von ihnen sind gerade auf dem Weg zurück in die Hausfeldstraße. Julian, Katharina, Magdalena, Rebecca und Leon waren in der Seestadt. Um schwimmen zu gehen und Shisha zu rauchen – so verbringen sie ihre Abende. Ab 22 Uhr ist jedoch Sperrstunde.
Ein Wärter schickt sie vom See weg und droht mit der Polizei. “Das war nicht das erste Mal”, sagen Julian und Magdalena. Die U2 ist ihrer Meinung nach die angenehmste U-Bahn, es gibt wenige Betrunkene. “Die Lustigen sind meistens wir” sagt Julian, bevor er einen Zug von seiner Shisha nimmt. Mit den Worten “Ich glaub wir brauchen eine neue Kohle” steigen sie in die U-Bahn ein.
Die nächste U-Bahn fährt vor. Vereinzelt steigen Menschen ein. Einsam rollt eine Bierflasche durch die U-Bahn. Nach drei Stationen steht ein Mann auf, und wirft sie in den Spalt zwischen Waggon und Bahnsteig. Es ist vollkommen still. Wenn die U-Bahn in die Tunnel eintaucht, füllt sie sich langsam wieder. Die Menschen aus der Stadt strömen in die Linie, sie wird bunt – nichts erinnert mehr an die Sterilität und Abgeschiedenheit der Seestadt.
Autoren: Anna Stockhammer, Nadine Zeiler
Mit Unterstützung von: Nina Kriegler
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