6.30 Uhr, mitten im Nichts der zentralen Hochebene. Das monotone Rattern des Zuges ist mir inzwischen so ins Gehör übergegangen, dass die unendlich weite Buschlandschaft nahezu andächtig wirkt. Am Horizont sind über Nacht majestätische Felsen aufgetaucht, so schroff und schön, als wären sie urplötzlich durch die sandverkrustete Oberfläche aus stoppeligem Wüstengebüsch gebrochen.
Die Felskanten flimmern in der hellgelben Hitze, kein Grashalm scheint sich zu regen. Der Zug schleicht gemächlich dahin auf seinem einsamen Gleis. Schlaftrunken tapse ich zur Zugtoilette. Nicht mal deren lebensfeindlicher Desinfektionsgeruch kriegt mich vollends wach und so hätte ich auf dem Rückweg fast übersehen, dass dort, keine fünf Meter vom Gleisbett entfernt, eine Herde Zebras galoppiert. Ein wogendes Meer aus schwarz-weiß-gestreiften Leibern, die so schnell sind, dass sie verschwimmen, im Wettlauf mit unserer Diesellok.
Südafrika-Reisen sind gefährlich? Mit dem Zug war es ein sicheres Abenteuer!
Die trampelnde Herde wirbelt Staub auf, der Boden zittert unter ihren Hufen. Bilde ich mir ein, könnte auch der Zug sein, und ich bin von dem ganzen Anblick so benommen, dass ich eine gefühlte Ewigkeit nur dastehen kann, Kopf und Arme so weit nach draußen gereckt, wie es die verkeilte Mechanik des Schiebefensters zulässt.
In solchen Momenten vergisst man jede Kamera, jedes Dokumentationsbedürfnis, möchte einfach nur möglichst viel verinnerlichen. Das weiße Licht des Morgens, den Geruch trockener Hitze, den Fahrtwind und das Gefühl, auf der Schiene dahinzufliegen, zusammen mit der Herde. Einmal quer durch Südafrika, von Johannesburg nach Kapstadt.
Seit 18 Stunden bin ich an Bord des Shosholoza Meyl Zuges, unterwegs von der größten Stadt Südafrikas hinunter ans Kap der guten Hoffnung. 1.400 Kilometer auf der Schiene. Ungläubiges Kopfschütteln, das war die Reaktion der meisten Einheimischen, gefolgt von vehementem Abraten.
Zugfahren in Südafrika? Unzuverlässig, unbequem und viel zu gefährlich, allein, als junge Frau, obendrein weiß. Ungläubiges Staunen war die Reaktion der meisten meiner Freunde, als ich ihnen erzählte, dass mich der Spaß umgerechnet gerade mal 46 Euro kostet.
Rassismus in Südafrika: Überall werde ich als weiße Frau bevorzugt behandelt
In Südafrika ist alles bunter, nicht umsonst heißt der Vielvölkerstaat mit seinen über 60 Volksgruppen Regenbogennation. Mein Zug heißt Shosholoza, das bedeutet „vorwärts“, und an die fröhlich grellen Töne an Bord muss ich mich erst mal gewöhnen.
Das Abteil besteht aus zwei lila Kunstleder-Polsterbänken, darüber zwei Pritschen zum Ausklappen. Die Waggons sind türkis lackiert, die Schrift darauf ist gelb, das Holzfurnier innen orange, der Teppichboden grün. Auf meinem Ticket steht: No smoking, no firearms, no pets. In der Reihenfolge.
Überprüft hat meinen Fahrschein niemand. Stattdessen steht mein Name auf einer Liste, die an Gleis 13 im Bahnhof Johannesburg aushängt. Auf dem Weg dorthin passiere ich bewaffnete Sicherheitsleute und kritisch dreinschauende Polizisten. Das weiße Mädchen mit dem riesigen Rucksack lassen sie wortlos vorbei, bei allen Schwarzen werden Fahrschein und Papiere kontrolliert. Willkommen in Südafrika, wo die Rassentrennung erst vor 27 Jahren beendet wurde. Auf dem Papier.
Tatsächlich existiert die Apartheid, die Trennung der Menschen nach ihrer Hautfarbe, immer noch fort. Nicht so offensichtlich wie unter dem damaligen Apartheidsregime. Dessen Selbstverständlichkeit und Brutalität liegen mir hier und heute noch schwer im Magen, irgendwie. Weil ich weiß bin. Und überall zu spüren bekomme, wie sehr mich das bevorzugt.
Südafrika-Reisen seien gefährlich, sagen sie. Vor allem alleine als Frau.
Deshalb sollte ich in Südafrika nicht allein unterwegs sein, das schärft mir jeder ein, seit ich hier bin. Nicht alleine in Johannesburg joggen gehen, nicht alleine um die Straßenecke zum Bahnhof. Schlechte Gegend, sagen sie, viel Kriminalität. Für meinen Uber-Fahrer ist es selbstverständlich, mich am helllichten Tag zum Gleis zu begleiten. Während er sich mit meinem Rucksack abmüht, halte ich Ausschau nach etwas, weshalb ich mich unsicher fühlen sollte.
Im Inneren des Bahnhofs werde ich sofort von Service-Leuten mit Sicherheitswesten in Obhut genommen. Während meiner ganzen Reise stört mich am meisten, dass mir jeder einredet, ich müsse mich unsicher fühlen. Einen Anlass dazu hat mir Südafrika nie geliefert.
Ein flaues Gefühl in der Magengegend bereitet mir stattdessen die unsichtbare Trennlinie. Zwischen mir, dem jungen, weißes Mädchen und den meisten Menschen in Südafrika. Am stärksten ist dieses Gefühl bei der Besichtigung des Constitution Hill, dem Gefängniskomplex in Johannesburg, wo die Häftlinge bis in die 1980er Jahre nach Hautfarbe getrennt eingesperrt wurden.
Nelson Mandela und Mahatma Ghandi saßen hier. Wären sie weiß, hätte man sie für viele Vergehen gar nicht erst eingesperrt. An den Wänden kann man noch immer die verzweifelten Botschaften der schwarzen Häftlinge lesen, Zeugnisse der brutalen Schikane durch weiße Wärter.
„In Südafrika läuft viel zu viel falsch“
Die menschenverachtenden Methoden haben Spuren hinterlassen im Bewusstsein der südafrikanischen Bevölkerung. Die schmerzvolle Aufarbeitung könnte die Regenbogennation eines Tages spalten. Momentan erfasst die sogenannte Dekolonisierungsbewegung das Land mit einer Wucht und einer Wut, die gerade den Weißen hier Angst macht.
An den Universitäten randalieren Studenten, Haus- und Grundbesetzer fordern das Land zurück, das ihre Urahnen einst bewirtschafteten. Mit mir im Zug reist ein holländisches Ehepaar, sie gehören zu den acht Prozent der weißen Bevölkerung und bauen Wein in der Kapregion an.
Zu dem Grundstück kam die Familie, als im Süden des afrikanischen Kontinents weder Ländergrenzen, noch Besitzansprüche existierten. Natürlich war die Apartheid himmelschreiendes Unrecht, doch wieso solle man jetzt ausgerechnet sie mit Enteignung bestrafen, fragen sie.
Zwei Waggons weiter reist eine Gruppe Kids aus Durban, Küstenstadt im Nordosten, Surfer- und Hipster-Paradies. Rassentrennung scheint für jemand mit Vans und Tennissocken kein Thema zu sein. Und doch schlafen in ihrem Waggon ausschließlich schwarze Reisende.
Was sie nicht davon abhält, mit mir bei einer Zigarette am Zugfenster zu quatschen. Sie studieren, lieben Sport und Reisen, und wollen eines Tages in Europa arbeiten oder den USA. Ein Visum dafür bekommen sie mit ihrem Pass wahrscheinlich nicht. „Südafrika wird immer meine Heimat bleiben“, erklärt mir Kayleen, „doch hier läuft viel zu viel falsch.“
Sechs Millionen Flüchtlinge leben in Südafrika
An Bord des Zuges muss man davon nichts mitbekommen. Nichts von der Korruption der Regierung unter Ex-Präsident Jacob Zuma und nichts von den bis zu sechs Millionen Flüchtlingen, die kaum Chancen auf Bleiberecht haben. Gegen sie richtet sich zunehmend die Wut der armen Bevölkerung Südafrikas. Sie sehen in den Flüchtlingen vom ganzen Kontinent Konkurrenten im Kampf um Arbeit, Wohnraum, Lebensmittel.
Im Zug gibt es von allem genug: Arbeit für kenianische Ingenieure, eine Sekretärin aus Malawi, einen Biologen aus Simbabwe. Solange der Zug fährt, haben sie einen Job. Überziehen die Betten der Zugreisenden, putzen zwei Mal täglich die Klos und bereiten unser Mittagessen zu: klebriger Brei aus Maismehl, sogenannter Pap, mit Tiefkühlgemüse und Pommes Frites, also halbgaren Kartoffelstreifen, gekocht in der edelstahlverkleideten, klaustrophobisch kleinen Kombüse von Thulani, einem Zweimetermann aus dem Kongo.
Auf der Speisekarte steht kein einziges vegetarisches Gericht, deshalb braucht es einige Überredungskunst, ihm klar zu machen, was ich essen möchte. Nur Gemüse, gar kein Fleisch? Okay, dann eben mit doppelter Portion Hühnchen. Ist ja schließlich Vogel, nicht Fleisch, nein?
Thulani mustert mich abschätzig, das sture, weiße Mädchen. Sein Name bedeutet auf Zulu, einer der Stammessprachen, so viel wie: Sei still. Ich habe das Gefühl, dass er mir in diesem Moment genau das sagen möchte.
„Mit dem Zug durch Südafrika lässt vergessen, durch welches Land man gerade fährt“
Das würde allerdings gegen den Kodex der Gastfreundschaft verstoßen, dem sich die gesamte Belegschaft an Bord des Shosholoza-Zuges verschrieben hat. Zugbegleiterin Josy platzt um sieben Uhr morgens gut gelaunt in unser Abteil, die Schiebetür knallt mit Karacho auf, keine zehn Zentimeter von meinem Ohr auf der obersten Pritsche entfernt. Ungefragt stellt sie dampfend frischen Kaffee auf den Tisch.
Einen Becher Instantpulver mit heißem Wasser später fühle ich mich putzmunter, trotz der vier Bier, die ich am Vorabend noch mit Kayleen und ihren Freunden getrunken habe. Als sie gegen halb eins den Whiskey auspackten, habe ich mich ausgeklinkt. Die Zugtoiletten sind zwar sauber, aber so genau will ich das dann auch nicht wissen.
Hier an Bord lässt sich leicht vergessen, durch welches Land man eigentlich gerade fährt. In den Dörfern entlang der Strecke fährt der Zug Schrittgeschwindigkeit, Menschen sind neben und auf den Schienen unterwegs. Je weiter wir ins Landesinnere kommen, desto ärmlicher werden die Behausungen neben den Gleisen.
Außer in den ehemaligen Koloniedörfern, die Namen wie Beaufort West tragen: Pastelltöne und weißes Jugendstilgeländer, das Erbe der europäischen Kolonialherren könnte sich nicht stärker unterscheiden von den notdürftig zusammengezimmerten Hütten daneben. Kinder laufen neben dem Zug, einige Passagiere werfen ihnen Süßigkeiten zu.
Von Johannesburg nach Kapstadt mit dem Zug, quer durch Südafrika
Nach 30 Stunden auf der Schiene gilt eine andere Zeitrechnung. Ich kann plötzlich stundenlang aus dem Fenster starren, ohne einen einzigen Griff zum Smartphone. Hat hier sowieso keinen Empfang. Sechs Stunden Verspätung sind für einen Fernzug in Südafrika kein Problem, sondern die Regel. Die Passagiere nehmen es gelassen, bestellen noch einen Drink. Der Barwagen erinnert an ein Grandhotel vergangener Zeit, vergoldete Lüster an der Wand, gestärkte Tischdecken, muffige Polsterung. Bisschen Belle Epoche.
Gegen Nachmittag verändert sich die Landschaft draußen, die verdorrte Graslandschaft wird lebhafter. Wir fahren durch sattgrüne Weinanbaugebiete, am Fuß der Felsen tauchen bäuerliche Siedlungen auf. Unser Ziel rückt näher, das Kap der guten Hoffnung.
Nach 36 Stunden freue ich mich, als ich in Kapstadt auf den Bahnsteig trete. Die Zugfahrt hat mir über tausend Kilometer Südafrika gezeigt. Die Schönheit karger Weite, majestätischer Natur und ein ganz besonderes Gefühl des Reisens. Bei dem es nicht darum geht, Distanz zu überbrücken, sondern wo die Entfernung selbst im Mittelpunkt steht. Und ins Bewusstsein rückt.
Denn dort, in meinem gemütlichen Schlafwagen, hinter der Fensterscheibe, war ich selbst ein Stück weit entfernt von dem Land, durch das ich gereist bin. Räumliche Distanz spielt in Südafrika keine Rolle. Es ist die menschliche Entfernung. Den einen begegnet das Land mit voller Schönheit, den anderen mit voller Härte. Die Zebras neben der Strecke erscheinen mir freier als mancher Mensch.