Sorgfältig verstaute Fritz den Schlaghaken an seinem Klettergurt. „Bist eh no ned eingschlofn?" rief er dem unsichtbaren Paul nach oben in die Wand hinauf. Das Seil, dass von Fitz' Körpermitte aus senkrecht und gespannt über die glatte Wandstelle verlief, verschwand an deren Kante und rührte sich keinen Millimeter. Paul konnte nicht mehr weit sein, eigentlich müsste er nach dieser Kante einen gemütlichen Stand gefunden haben. Ungefähr 50 Meter ist er vorausgeklettert und Fritz hatte im Nachstieg bestimmt schon mehr als die Hälfte hinter sich gebracht.
Pauls Angewohnheit, ständig die komplette Länge des Seils auszuklettern, ärgerte ihn ein wenig. Wie soll man denn vernünftig kommunizieren, wenn der Wind pfeift und der Kletterpartner hinter Kanten und Ecken verschwunden ist? Und jetzt, wo er bestimmt eine viertel Stunde gebraucht hatte, um diesen verdammten Haken aus dem schmalen Riss herauszuhämmern, ärgerte es ihn gleich noch mehr, wenn er daran dachte, wie Paul dann wieder meckern würde, was er denn so lange dort unten in der Wand gemacht habe.
Während Fritz seinen Ärger murmelnd über den glatten Kalk schob, kam ihm sein Großvater in den Sinn. Der hatte immer einen gut gelaunten Spruch auf den Lippen. Eigentlich quasselte er beim Klettern unentwegt und erzählte eine lustige Geschichte nach der anderen. Nicht einmal schwierigste Stellen schienen ihn davon abzuhalten, lauthals lachend Geschichten von seinem patscherten Freund Maximilian zum Besten zu geben. Ein Lächeln huschte über Fritz' Gesicht während er sich an einem kleinen Griff hochzog und an die Geschichte mit Maximilian dachte, der mitten in einer Eiswand so dringend aufs Klo musste, dass ihm nichts Anderes übrigblieb, als sich an seinen Pickeln hängend zu erleichtern. Der Großvater bog sich vor Lachen durch einen engen Kamin hinauf, als er von Maximilians blankem Hintern auf 3.527 Metern Seehöhe erzählte.
Ernst wurde er nur bei einem Thema, wenn es darum ging, fixe Haken in die Felsen hineinzubohren. Da konnte er schimpfen wie ein Rohrspatz. „Ma hintarlosst koani Spura ned in da Notur! Nit amol an Fuaßohdruck!", hat er oft gewettert. Fritz hatte nie etwas Anderes von ihm gelernt und klettert auch jetzt, 17 Jahre nachdem der Großvater für immer Lebewohl gesagt hat, fast ausschließlich nach dieser Ethik. Natürlich ist er früher viel in gebohrten Sportkletterrouten unterwegs gewesen, hat sich mit Freunden in beliebten Klettergebieten die Finger an kleingriffigen Leisten wund gescheuert oder Abenteuer in berühmten alpinen Routen erlebt. Das war dem Großvater nie ganz recht, das hatte er immer gemerkt. Doch der hat nie gemeckert, nur hi und da eine spitze Bemerkung losgelassen.
Dem Großvater wiederum ist sehr wohl aufgefallen, dass für Fritz die spurlose Art des Kletterns ebenfalls bedeutsam war. Auch als seine eigenen Kräfte langsam nachließen und Fritz sich in jugendlichem Übermut zu einem der besten Sportkletterer seiner Generation hochtrainierte, genossen die Beiden ihre gemeinsamen Touren in der alpinen Einsamkeit. Mit jeder Unternehmung wuchs Fritz' Gespür für eine gute Route. Als er die erste Linie selbstständig durch eine zerklüftete Felslandschaft unweit seines Heimatdorfes legte, musste der Großvater nicht mehr viel korrigierend eingreifen.
Fritz hatte sich diesen Weg schon Wochen zuvor immer wieder angesehen. Er stieg auf alle Berge, die der Wand gegenüberstanden, setzte sich dort ins Gras, beobachtete jeden Riss und jeden Grat. Akribisch zeichnete er die Felsstruktur mit all ihren Eigenheiten in ein kleines Büchlein. Daheim saß er dann oft nach der Arbeit im Schein der Schreibtischlampe in dieses Büchlein vertieft und grübelte über den optimalen Weg durch die Wand. Mehrere Male verwarf er seine Pläne nach Besuchen auf den gegenüberliegenden Almen wieder und begann seine Arbeit von vorne.
Als er aber mit dem Großvater am Einstieg stand, war er sich zu hundert Prozent sicher. Er kannte jeden Platz, der dazu geeignet war einen Stand einzurichten. Der Großvater vertraute ihm völlig. Mit einem lockeren Lächeln wischte er Fritz' Anspannung weg, klatschte in die Hände und stieg in die Route ein. Als Fritz am Abend zuvor dem Großvater die Route erklärte, war die Vorfreude greifbar. Es schien, als konnte er es kaum erwarten, die Wand zu durchsteigen und zu entdeckten, was sich der Enkel ausgedacht hatte.
Nach einigen Metern versenkte er seinen ersten Haken gekonnt in einem kleinen Spalt und nahm beschwingt einen senkrechten Riss in Angriff. Fritz sicherte er den Großvater gespannt in der ersten Seillänge. Nach einer Ewigkeit von einer halben Stunde baute dieser den ersten Standplatz in einer Nische. Schnell kletterte Fritz die 40 Meter empor und nahm dabei alle Spuren der Besteigung wieder mit. Nun war er an der Reihe erste Schritte in die jungfräuliche Wand zu setzen. Die ersten Menschen auf dem Mond konnten sich nicht fantastischer gefühlt haben!
Stolz standen Fritz und der Großvater am Abend des langen Klettertages auf dem Gipfel. Die Nacht verbrachten sie in ihren Biwaksäcken auf einem kleinen Wiesenplateau, erzählten sich Geschichten, tranken Kaffee. Am nächsten Morgen konnte die Sonne keine einzige Spur der Beiden mehr ausleuchten, denn sie waren mit all ihren Utensilien schon wieder auf dem Weg ins Tal.
Die Gedanken an den Großvater vertrieben den kurzen Anflug von Ärger über Pauls übertriebenen Enthusiasmus. Fritz zog sich an der Kante hoch und entdeckte den grinsenden Kletterpartner an einem Felsvorsprung lehnend. „Den letzten hob i sauwa einigsteckt", befand dieser sichtlich stolz und mit aufforderndem Blick während er Fritz die letzten Meter aus der Wand sicherte. „Geh, der is ma eh scho fost entgegenghupft, den hättst ned schief auschaun diafn", entgegenete Fritz übertrieben lässig. „Aso, und wo woast daun so laung?" bohrte Paul. Fritz schaute in die Gegend und sagte lächelnd: „Hob in Opa bsuacht."