Ann Esswein

Freie Journalistin, Berlin

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Einer muss es ja tun

Božidar Božanovićs Rückflug in sein altes Leben dauert eine Stunde und fünfzig Minuten. Sein bester Freund holt ihn vom Flughafen ab. Dann endlich wieder Fenster herunterkurbeln und laute Musik, Serpentinen auf und ab durch bosnische Wälder fahren. Die Luft ist feucht und warm. Freunde und die Familie warten schon zu Hause um den Grill. Sie wollen hören, wie es wirklich ist, im Land der Oktoberfeste, BMWs und makellosen Häuser. Deutschland. Viele haben keinen Job, können ihre Miete nicht zahlen. Das war so, als Božanović weggegangen ist. Und es ist noch so, als er zurückkommt. Was der 25-Jährige als Pflegefachkraft in Deutschland verdient, darüber wird nicht geredet.


 Es würde ihnen zu sehr wehtun, sagt Božanović. Seine E-Zigarette blubbert, als er daran zieht. Zurückgelehnt sitzt er am gedeckten Gartentisch. Frische Wäsche trocknet in der Mittagssonne. Aus dem Haus kommt seine Mutter mit einer Karaffe Heidelbeersaft und frittiertem Brot. Die Schürze zieht sie auch zum Essen nicht aus.

Božanović, Drei-Tage-Bart und ein Tattoo auf dem Handrücken, erzählt von einer Zeit, als er noch DJ »Theo« war. Er mähte Rasen und strich Geländer, um seine Mutter zu unterstützen. Er zeigt ein Bild, auf dem Kinder auf einer Couch sitzen. Er zählt ab: Sie ist weg. Er in Italien. Auch weg. Weg. Wohin? Keine Ahnung. 70 Prozent seiner Freunde seien ins Ausland gegangen.


 Aber Božanović bleibt erstmal. Mit 20 Jahren sitzt er mit einem Abschluss als Pfleger im »Büros«, einer Art Arbeitsagentur von Bosnien-Herzegowina. Der Direktor rät ihm zu Geduld und fragt ihn, wie viel er für einen Job zahlen würde. Die meisten seiner Mitschüler bleiben arbeitslos. Fünf Jahre lang sucht auch Božanović vergeblich eine Stelle, als er von diesem deutschen Programm hört: »Triple-Win». Dreifacher Gewinn. Drei Gewinner. Er soll einer davon sein. Ein vierstelliger Lohn könnte ihn erwarten. Es hört sich gut an.


 Das Projekt der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) wirbt Pflegekräfte aus dem Ausland an. Božanović ist Teil von etwas, das die Hans-Böckler-Stiftung »Globalisierung des Pflegemarktes« nennt. Kein neues Phänomen: Seit den 1990er Jahren kommen vor allem Pflegekräfte aus Osteuropa nach Deutschland, viele auch illegal. Mit »Triple-Win« will man es besser machen.


 In jener Nacht liegt Božanović wach und kalkuliert. Am Wohnzimmertisch am nächsten Tag eröffnet er seiner Mutter und seiner Freundin seinen Plan: »Ich gehe«. Er könne nicht für den Rest seines Lebens in einem Land abarbeiten, in dem eine korrupte Schicht vom Leben anderer verdient. Erst als er die Verträge unterschreibt, weint seine Mutter.


 631 Pflegekräfte aus Bosnien-Herzegowina hat das Projekt »Triple-Win« seit 2013 nach Deutschland vermittelt. Über 3000 Fachkräfte insgesamt, aus Serbien, den Philippinen und Tunesien. Länder in denen es viele arbeitslose Pflegekräfte gibt. Deutschland dagegen, eines der reichsten Länder der Welt, schafft es nicht, seine Alten zu pflegen. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland liegt derzeit bei drei Millionen. In über der Hälfte aller Fälle holen sich Angehörige Hilfe, in ambulanten Einrichtungen oder Heimen, Tendenz steigend, aber es gibt nicht genug Pflegekräfte. Schlechte Bezahlung bei starker physischer und psychischer Belastung machen den Beruf unattraktiv. Zumindest für Deutsche.


 Um die Lücke auszugleichen, sollen ausländische Pflegekräfte nach Deutschland kommen. Sie sind, in der Logik von "Triple Win", die Gewinner Nummer eins, bekommen eine faire Bezahlung und Weiterbildung. Gewinner Nummer zwei: Arbeitslose Pflegekräfte aus Drittländern. Gewinner Nummer drei: Die Herkunftsländer. Die Arbeitslosigkeit soll gesenkt und die lokale Wirtschaft gefördert werden. Durch Geldtransfer, erklärt Emir Čomor, Projektverantwortlicher im Büro der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), in einem Büro im Botschaftsviertel in Sarajevo. Čomor hat wenig Zeit. 49 Bewerber befinden sich gerade in der Vorbereitung zur Ausreise. Zum Problem, ob so ein Programm einen Brain-Drain verursache, möchte er sich nicht äußern. Nur so viel: »Es ist eine komplexe Frage«. Zielgruppe von Triple-Win seien Arbeitslose, sagt Čomor. Aber nur wenige der 60 Prozent Jugendarbeitslosen haben eine Chance auf Vermittlung.


 Vor zwei Jahren zählte  Božanović zu den Auserwählten. Hier, im Büro der GIZ, erfuhr er, welche Rechte und Pflichten ihn in Deutschland erwarten. Wie ein Grundschüler lernte er Deutsch mit bunten Bildern. Vier Monate lang, die er irgendwie finanzieren musste. Dann wurde er zum Gespräch eingeladen. Über Nacht fuhr nach Belgrad und saß am nächsten Tag zwei Männern aus Berlin gegenüber. Was ihm auffiel: Sie trugen nicht Dolce und Gabana, obwohl sie reich waren.


 Die Männer stellen sich als Alexander Schucany und Stephan Schnabel vor, Geschäftsführer eines ambulanten Pflegedienstes in Berlin. Eine halbe Stunde dauert das Gespräch. Die Geschäftsführer sagen: Erzählen Sie von sich. Božanović ist fasziniert von Medizin, von der Tatsache, dass chemische Prozesse den Mensch am Leben halten und was passiert, wenn sie nicht mehr reibungslos funktionieren. Er habe sich schon immer gefragt, was das Leben ist. Es muss noch etwas anderes geben, möchte er denken. Er glaubt an Gott.


 Schucany erinnert sich auch an die erste Frage der meisten Bewerber: Wann bekommen sie das Gehalt und wie steht es mit dem Urlaub? Beim Gespräch mit Božanović hätten sie irgendwann laut gelacht. Es habe sich skurril angefühlt. Fast wie eine Adoption.

 Auch Alexander Schucany steckt in einer Krise, als er von Triple-Win hört. Sein Unternehmen hat Schwierigkeiten, Pflegekräfte zu finden. Die Hans-Böckler-Stiftung rechnet vor, dass es im Durchschnitt 178 Tage dauert, um eine Stelle zu besetzen. Schucany ruft an, nicht ohne Skepsis Vier tausend Euro Vermittlungsgebühr kostet die Investition.


 Vier Monate später warten er und sein Geschäftspartner am Flughafen auf Božanović und zwei weitere, neue Mitarbeiter. Die Geschäftsführer sind nervös, im Auto sprechen sie viel zu viel. In der frisch sanierten Wohnung stoßen die Chefs und die drei Neulinge an.

 Die »A & S Nachbarschaftspflege GmbH« liegt in einem Berliner Vorort, in dem man mehr Geranien als Graffiti sieht, wenn man die Häuserfassaden empor schaut. "Wohngemeinschaft", steht an der Klingel. Plastikblumen stehen auf IKEA-Möbeln. In der Einbauküche brodelt eine Kaffeemaschine.


In einem Bilderrahmen liest man: 


Ich lächle, bin mitfühlend und ersetze unserem Patienten gerne den Psychiater. Ich kann schauspielern, singen, tanzen und den Drucker reparieren. Kurz: Ich bin Pflegefachkraft.


 Es ist sieben Uhr morgens, kurz nach Dienstbeginn. Božanović sitzt mit einem roten Arbeitsanzug am Arbeitstisch und gähnt. Die miesen Tage sind für Božanović die, an denen er die Überforderung spürt, von der alle sprechen. Wenn zu wenig Personal da ist oder Kollegen krank werden. Heute ist einer der guten Tage.


 Durch die Babyfone hört er Absaug-Geräusche und die Stimmen seiner Kollegen in den Patientenzimmern. Die meisten Bewohner bekommen das Gesagte nicht mehr mit. Viele leben in akuter Erstickungsgefahr leben und sind von Beatmungsgeräten abhängig. Sie ziehen aus, sagt man hier, wenn sie sterben. Auch das ist neu für Božanović. In seiner Heimat gibt es solche Heime nicht. Die Menschen sterben zu Hause.


 Auch Wolfgang Müller wäre lieber zu Hause geblieben. Er könnte Božanovićs Großvater sein. Ein gelernter Tischler, der ackerte, bis er 61 Jahre alt war. Als er von dem Schlaganfall erzählt, nach dem er in die ambulante Pflege kam, kommen ihm die Tränen. Er hat nur einen Wunsch: Weihnachten wieder nach Hause zu kommen. Aber wer soll ihn dort pflegen?

 Drückt er den Notfallknopf, ist in der Wohngemeinschaft immer einer da, wie Božanović. Müller weiß, er hat Glück. Warum es in Deutwschland nicht genug Pflegekräfte gibt, ist ihm ein Rätsel: »Jeder Mensch braucht Hilfe, wenn man alleine nicht mehr kann«. Doch wohl auch ein Gesundheitsminister Spahn.


 Vor kurzem hat Božanović etwas gemacht, wofür eigentlich keine Zeit ist: Er hat Müller mit nach Hause begleitet. Der Geburtstag seiner Enkelin. Nur ein paar Stunden. Er komme ja gut mit ihm aus, sagt Müller. Aber dass Deutschland sich Pflegekräfte aus dem Ausland holt, die »preiswerter sind« und damit Familien in den Herkunftsländern mit ernährt, findet er nicht richtig. Auch nicht, dass sie ihre Familien zurücklassen müssen und nur noch selten sehen

 Fragt  Božanovićs Mutter ihren Sohn, ob er glücklich sei, sagt er nicht Nein. Er sei zufrieden. Ob er Freunde habe? Sehr nette Kollegen! Er schickt ihr Bilder vom See, von Blumen, die aussehen wie die hier vor ihrem Haus. Nur seinen Freunden erzählt er am Telefon von seinen Zweifeln: In Deutschland haben die Menschen keine Zeit, mit anderen zusammenzukommen.


 Seine freien Tage verbringt Božanović im Café Havanna. Die E-Zigarette, Spezi und ein Latte Macchiato sind vor ihm auf dem Tisch wie Erinnerungen an einen früheren Alltags in Bosnien-Herzegowina: früh aus dem Haus gehen, im Café sitzen. Freunde kommen vorbei. Noch einen Kaffee. Noch eine Kippe. Und noch ein Kaffee. Aber in Deutschland bleiben die Tische und Stühle neben ihm meistens leer.


 Seine Integration in Deutschland bedeutet: ein neues Girokonto, ein Fahrrad, die SIM-Karte. Der Firmenlauf. Der Sprachkurs. Eine Werksbesichtigung bei Volkswagen. Für die Anfangszeit bietet das Unternehmen eine Art Pauschalpaket an Die Pflegekräfte können sich jederzeit bei Triple-Win melden, wenn sie Fragen haben oder es Probleme gibt.


Im Juli reiht sich Božanović mit seinen Kollegen um einen Biertisch. »Geschlossene Gesellschaft« heißt es auf einem Schild vor dem Biergarten. Sommerfest der »A & S Nachbarschaftspflege GmbH«. Pina Colada und Berliner Weiße auf dem Tisch. Ein Alleinunterhalter singt: "Wahnsinn, warum schickst Du mich in die Hölle". Dann übernimmt einer der Geschäftsführer das Mikrofon. Er sei dankbar für den Einsatz seiner drei neuen Mitarbeiter. Es sei nicht einfach gewesen. Endlich haben sie die deutsche Anerkennung als Pflegefachkraft in der Hand. Die Kollegen klatschen.


 Endlich bekommt Božanović den Lohn, der ihn nach Deutschland gelockt hatte: 3100 Euro plus Zuschläge. Etwas von dem Geld, eine Flasche Pfefferminzlikör und Markenklamotten hat er im Gepäck, als er nach Hause fliegt. Seit er als Pflegefachkraft anerkannt ist, kann er seine Mutter finanziell unterstützen. Sie arbeitet auch als Pflegerin, privat. Im Monat verdient sie 150 Euro, für acht Stunden, mal Tag, mal Nacht; zwei Tage Urlaub.


Über seinen Heimatort sagt Božanović: »Nur Geister und alte Leute«. Die Hitze flimmert in der Innenstadt. Beim Vorbeigehen grüßt er ein paar Senioren, die auf einer Bank sitzen. »Du hast keine Chance, dich hier weiterzuentwickeln«. Vor dem Bosnien-Konflikt hatte der Ort 40 000 Einwohner. Heute sind es halb so viele.


 Dann steht er vor einem Gesundheitszentrum, in dem er früher ein Praktikum gemacht hat. 400 Euro Lohn. Die Treppenstufen knarzen, als er in den zweiten Stock geht. 30 Jahre alt sind die Betten. Die Decken so niedrig, dass man sie berühren kann. Beatmungsgeräte wie in Deutschland sind hier so fremd wie die Idee, die Eltern abzugeben, weil man zu tun hat. Božanović ist sich sicher: In seinem Land werde sich nur etwas ändern, wenn alle gehen, weil sie in Deutschland mehr Stundenlohn bekommen, als in Bosnien-Herzegowina für einen ganzen Tag. 


 Iim Schatten der Klinik, die Beine überschlagen, erinnert sich Božanović an die Momente, in denen er alles abbrechen wollte. Als sein Tag aus acht Stunden Arbeit, danach Sprachkurs, Essen, Duschen, Schlafen bestand und aus Abenden, an denen er ins Bett fiel, den Kopf leer und niemand bei ihm.


Er hat da ein Zitat im Kopf, das er aus einem Lied kennt:


What does not kill you makes you stronger.


Er sagt: »Ich dachte, ich gehe nach Deutschland, um ein besseres Leben zu haben, aber ich bin einsam«. Zumindest sei es seine Wahl gewesen.

 Aber er hat: Ein Visum für drei Jahre. 150 Euro im Monat für seine Mutter. Neulich war er im Einkaufszentrum. Für 300 Euro habe er sich eine Hose gekauft: »Um wieder zu wissen, warum ich nach Deutschland gekommen bin.«
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