Ann Esswein

Freie Journalistin, Berlin

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"The Game": Sie wollen illegal über die Grenze - und machen daraus ein Spiel

"Der Dschungel" sagen die Geflüchteten, wenn sie vom Flüchtlingscamp Vučjak sprechen. Mitten im Wald steht es, auf einem Gelände im Westens Bosniens, das einmal eine Mülldeponie war. 700 Geflüchtete schlafen in weißen Zelten, für 400 ist offiziell Platz. Hier gibt es keine Wasserleitung und keinen Strom. Aufgeplatzte Müllsäcke liegen neben dem Waschcontainer. Ein Volleyball fällt immer wieder auf staubigen Boden, es riecht nach gebratenem Fleisch. Im Schatten der Zelte warten die Männer, dass es endlich losgeht.

Subhan Salihi will hier weg. Die Polizei hat ihn in einem Zug aufgegriffen und in Vučjak abgesetzt, erzählt er. 24 ist er und hat bereits graue Strähnen.


"Just Relax" steht auf seinem T-Shirt. In den letzten zehn Monaten hat er kaum einen Moment geruht. Es war Oktober, als er Afghanistan verließ, seine Familie und Freunde zurückließ. Seitdem ist er auf der Flucht.


Die EU in Sichtweite: Vom Camp aus kann man die kroatische Grenze sehen

Es ist Mittagessens-Zeit in Vučjak. Etwa 200 Männer drängeln sich hinter die Absperrung. Aus großen Töpfen dampft es, mit einem Holzstock patrouilliert ein Aufseher. Salihi ist aufgeregt, was nicht an der Tagesspeise liegt: Nudeln mit Fleischsoße. Von der Essensschlange aus kann Salihi die kroatische Grenze sehen. Sie liegt hinter dem Gebirgskamm. Die EU ist in Sichtweite und alles, was sie verspricht: Bildung, Wohlstand, vor allem eines: Sicherheit.


Vier Stunden dauert der Aufmarsch, hat Salihi erfahren. Viele der Männer, die mit ihm in der Essensschlange stehen, werden heute aufbrechen. Nachts werden sie sich im Wald verstecken und schlafen. Zum Morgengrauen versuchen sie, die grüne Grenze zu überqueren. Nur noch ein paar Tage, dann wird auch der 24-Jährige starten.

"Eigentlich ist es ein Spiel", sagt Salihi. "Du gewinnst oder du verlierst. Wenn du gewinnst, findest du einen Weg, die Grenze zu überschreiten."


"The Game" ist ein Codewort unter den Männern

"You go game?", fragen die Männer in Vučjak. Es ist wie ein Codewort, das übersetzt bedeutet: Versuchst du, illegal über die Grenze zu kommen? Das Ziel: nicht von der kroatischen Grenzpolizei erwischt werden. Bis zu 150 Geflüchtete marschieren jede Nacht mit Rucksäcken und Schlafsäcken ausgerüstet Richtung Gebirgskamm, entlang der Landstraße, die Gesichter angestrahlt von ihren Smartphones. Die Telefone dienen ihnen als Kompass.


Seit zwei Jahren ist der bosnische Kanton Una-Sana Hotspot der Balkan-Route. Das Rote Kreuz in Bosnien spricht von 10.000 Geflüchteten, die den Grenzort Bihać seit Anfang des Jahres erreicht und durchlaufen haben, denn geblieben ist fast keiner. Fünf Prozent der Geflüchteten haben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) einen Asylantrag gestellt. Viele wollen weiter, nach Italien, Deutschland, Österreich. Doch beim Grenzübertritt werden die Migranten von der kroatischen Polizei aufgegriffen und in den fünf Camps im Kanton Una-Sana abgesetzt. In Transit-Orten wie Vučjak, wo das Spiel von vorne beginnt. Manche probieren es zum 15. Mal.


Fragt man Subhan Salihi, was er will, sagt er: "Ich versuche mein Bestes, um ein Leben zu haben." Obwohl er genau das in Afghanistan hatte: Der 24-Jährige studierte Buchhaltung und Computerwissenschaften. Dann sei etwas passiert, sagt er und spricht leise, als dürften die Männer, die um ihn herumstehen, nicht mithören. Er könne nicht darüber sprechen. Nur so viel: "Keiner verlässt seine Heimat ohne Grund." Salihi dreht einen schwarzen Ring an seinem Finger, das Einzige, was er aus seiner Heimat mitgenommen hat.


Wenn es in Kabul sicher gewesen wäre, wäre er niemals fortgegangen. Zurück lässt er seine Familie, sechs Geschwister: "Natürlich machen sie sich Sorgen." Der einzige Kontakt zu ihnen ist sein Smartphone. Skypen sie, sagt Salihi seiner Familie, es gehe ihm gut. Er sei immerhin auf dem Weg nach Europa. Was er nicht erzählt, ist die Sache mit dem Spiel. Die gewaltvollen Vorfälle an der kroatischen Grenze, wie erst gestern wieder einer passiert ist: Vier seiner Freunde wurden an der Grenze gefasst.


Wer das Spiel verliert, wird von der Grenzpolizei gedemütigt

Was dort passiert, nennt die kroatische Regierung Einreiseverweigerung, humanitäre Organisationen nennen es Push-Backs. Die EU spricht von einer Menschenrechtsverletzung. In den Medien ist die Rede von illegalen Massenabschiebungen.


Die Verlierer des Spiels sind die Geflüchteten, die von der kroatischen Polizei zurückgedrängt werden. Sie müssen 20 Kilometer zurücklaufen, nur in Unterhosen, das Handy zerstört, die Schuhe und der Schlafsack vor ihren Augen verbrannt, gedemütigt von der kroatischen Grenzpolizei und verprügelt. Von Maskierten und schwarz-gekleideten Grenzbeamten sprechen die Campbewohner in Vučjak. Ähnliche Bilder zeigte im Winter vergangenen Jahres auch eine versteckte Kamera an der grünen Grenze nach Kroatien.

Über 500 Fälle von Polizeigewalt belegt die Organisation Border Monitoring Violence bisher. Seit 2017 dokumentiert die NGO physisches Leiden. Von Schlägen, Schüssen und Misshandlungen liest man in den Berichten, die sie auf ihrer Webseite veröffentlicht hat. Der Zustand sei eine Mischung aus struktureller Gewalt und mangelnder, medizinischer Versorgung, sagt Chandra Esser. Sie kommt aus Deutschland und arbeitet im Grenzort Velika Kladuša für die Organisation.


Viele Minderjährige sind unter den Opfern der Polizei

Familien, Frauen und Kinder sieht Chandra Esser nur im Sommer. Für sie sei das Spiel, der illegale Grenzübertritt, besonders hart. Manche Gruppen werden verschont, wenn allein reisende Frauen mit Kindern unter ihnen sind, weiß Chandra. Denn Alleinerziehende, Schwangere und Kinder sind in der EU-Aufnahmerichtlinie neben etwa älteren Menschen als besonders schutzbedürftig festgelegt.


Wie viele Frauen und Kinder sich im Grenzkanton Una-Sana aufhalten, kann das Rote Kreuz lediglich schätzen. Nur zwei Lager in Westbosnien sind für die Schutzbedürftigen ausgerichtet. Die Quote von alleinreisenden Frauen liegt bei ein bis drei Prozent. In vielen Lagern, auch in Vučjak, gibt es keine einzige Frau, dafür eine große Dunkelziffer an unbegleiteten, minderjährigen Jugendlichen.


Erst gestern gab es einen Fall, erzählt Chandra Esser in Bihać, ein Grenzbeamter habe zu einem Minderjährigen gesagt "Du lügst. Du bist kein Kind". Er habe ihn trotzdem geschlagen. Kein Einzelfall. In den rund 533 Berichten ist immer wieder von Minderjährigen und sogar Kleinkindern zu lesen.


Schilder mit der Aufschrift "Kein Eintritt für Migranten"

Die kroatische Regierung äußert sich nicht zu den Vorwürfen. Im Juli aber sagte die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic dem Schweizer Fernsehen: "Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn man Menschen abschiebt. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe, immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden."


Von der politischen Debatte bekommen Hazim Farhan und seine sechsköpfige Familie nichts mit. Der Vater, seine Frau und die vier Kinder sitzen am Straßenrand, wenige Kilometer von der Grenzstadt Velika Kladuša entfernt. Autos rauschen an ihnen vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen Einfamilienhäuser mit Vorgärten. Eine Schafsweide, darauf ein Schild mit der Aufschrift: nicht betreten. Majestätisch ragt der Turm einer Moschee in den Himmel. Auf dieser Seite liegt das alltägliche Leben. Aber Hazim Farhan und seine Familie bekommen zu spüren, dass auf dieser Seite Bosniens kein Platz für sie reserviert ist. Vor Bäckereien und Läden in Velika Kladuša hängen Schilder mit Aufschriften wie "Kein Eintritt für Migranten".


Auf ihrer Straßenseite liegt das Flüchtlingscamp Miral in einer ehemaligen Fensterfabrik. 600 Geflüchtete haben hier Platz, meist erwachsene oder jugendliche Männer, aber keine Frau und keine Kinder. Kein Eintritt hieß es auch hier für die sechsköpfige Familie. Die nächste separate Unterkunft für Frauen und Kinder liegt einen zehnstündigen Fußmarsch entfernt, erzählt die Mutter Akbahl Sabri. Seit Tagen schlafen sie im Freien. An diesem Mittag ruhen sie sich aus, angelehnt an eine eingerissene Mauer. Die Familie stammt aus dem Irak. Die Eltern flohen mit ihren Kindern vor dem Krieg. Die Sicherheit, die sie sich in Europa versprachen, sieht in der Realität ganz anders aus.


Hazim Farhan und seine Familie sind seit sechs Monaten in Bosnien. Sechs Mal hätten sie schon versucht, über die Grenze zu kommen: "Wir waren so viele Tage unterwegs, am Ende dann kommen die Polizeibeamten, nehmen unsere Sachen und schlagen uns", sagt Hazim Farhan. Müde liegt seine Tochter in seinem Schoß. Für die Kinder sei die Flucht besonders hart, sagt ihre Mutter. Stundenlanges Marschieren. Bis zu zehn Tage im Wald. Kratzspuren ziehen sich über die Beine ihres Sohns. Von einem Spiel sprechen sie nicht mehr.


Keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen

Währenddessen wartet Subhan Salihi auf die Dämmerung. Im Schneidersitz beobachtet er eine Gruppe Männer, die Cricket spielen. Für den 24-Jährigen ist es in dieser Nacht so weit. Er hat seinen Rucksack gepackt, Wasser, Brot, Snacks. Er ist bereit für die Reise.

"Dieses Spiel ist nicht so einfach", sagt Salihi. Nicht wie Cricket oder Fußball. "Ich werde mein Bestes versuchen, um etwas aus meinem Leben zu machen. Um ein besseres Leben zu haben."


Er will weiter studieren, in Deutschland oder Italien. In Sicherheit. Wenn er gewinnt, will er einen Asylantrag stellen. Wenn er verliert, werden sie ihn nach Bosnien abschieben und er wird es wieder versuchen, sagt er. Er hofft nur eines: "Ich will nicht der Polizei in die Quere kommen und nicht deportiert werden."

Fragt man Salihi, ob er Angst hat, sagt er nein. Er hat keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen.

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