Ann Esswein

Freie Journalistin, Berlin

Keine Abos und 1 Abonnent
Artikel

Indonesien - Coming-out auf Bali

"Wegen der bules lebe ich hier", sagt April und rührt in seinem Milchkaffee, der so westlich wirkt wie der Einfluss der Touristen in Balis kultureller Hauptstadt Ubud. Bules, das seien „die Weißen". Sie würden diesen Teil von Indonesien etwas toleranter machen, erklärt der 25-Jährige. Die Bäckerei, in der er seine Freundin trifft, ist voller bules. Der junge Mann in blau-grauem Kapuzenpulli scrollt auf seinem Smartphonebildschirm. Dann zeigt er seiner Freundin das Bild einer Frau mit rot-gefärbten Korkenzieherlocken und verlängerten Wimpern. Sie kichern und es wirkt, als würden sie sich über die selbstdarstellerische Selfiepose der jungen Frau lustig machen.


Wäre die Person auf dem Foto nicht April selbst.

April ist ein ladyboy, auf Indonesisch auch waria. Er sieht sich als Frau und er schläft mit Männern. Manchmal nimmt er dafür auch Geld, eigentlich aber ist es „ein Spiel" für ihn. April hat zwei Facebookprofile, zwei Namen, zwei Identitäten. Tagsüber arbeitet er als Friseur in einem Spa. Er frisiert Frauen, tuscht ihnen die Wimpern und lackiert Fingernägel - „stellvertretend", denn schminken darf er sich selbst nur nachts. Mit Ladenschluss legt er sich eine Maskerade mit Make-up an und übernimmt eine Rolle, die offline nur in ein paar wenigen Schwulenclubs auf Bali existiert, existieren darf.


Online schaffen sich Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI) nicht nur einen parallelen Existenzraum. Über soziale Dienste wie Grindr vernetzte sich die Gemeinde - bis im September die Regierung viele der populärsten Apps für LGBTI sperrte. „Über Grindr hatte ich die Möglichkeit, einen zukünftigen Ehemann, einen Freund oder Verbündete zu finden", sagt April enttäuscht.


Konservative Politiker und Strömungen versuchen, die LGBTI-Gemeinschaft dort anzugreifen, wo sie am stärksten ist: im global vernetzten Social Web. Die Attacke ist gegen die Identität der LGBTI gerichtet, die sich durch das Internet zwar der staatlichen Kontrolle, nicht aber der gesellschaftlichen Stigmatisierung entziehen können. Die Schwulenfeindlichkeit hat eine neue Dimension angenommen, mittlerweile wirkt sie sich bis auf die Smartphonebildschirme der LGBTI aus.


2016 rollte laut Human Rights Watch eine „Welle der Homophobie" durch Indonesien. Alles begann im Januar, als die muslimische Tageszeitung Republika titelte: „ LGBTI, eine ernsthafte Bedrohung". Was vorher ein beinahe unbekanntes Akronym war, füllte als Diskurs über die LGBTI-Szene in den folgenden Monaten die Medien. Allein in der Republika erschienen 200 Artikel zum Thema. Von einem „Meinungskrieg" wird in der Studie „LGBTI. Media Coverage and Community Media Mapping" gesprochen.


Sei kein „baci"

Im Februar forderte der Ulema-Rat (MUI), eine muslimische Dachorganisation, erstmals ein Verbot von LGBTI-Aktivitäten. Im selben Monat fand ein Treffen der Rundfunkkommission statt. Das Ziel: jegliche Darstellungen aus der Medienlandschaft zu bannen, „die Kinder und Jugendliche dazu anstiften können, schwul oder lesbisch zu werden". Im Dezember schrieb die Jakarta Post, dass künftig keine Transgender, Transvestiten oder Homosexuellen mehr in den Medien zu sehen sein werden.


Zuvor stand die „Anstiftung" unter Strafe, mit einer neuen Klausel im nationalen Rundfunkgesetz soll nun jegliche Art von LGBTI-Darbietung strafbar werden. Noch gelten die Dekrete nicht vollständig. Trotzdem seien sie ein „Schlag" gegen die Meinungsfreiheit des Landes, sagt Kyle Knight, der für Human Rights Watch als Forscher für das Programm zur Rechtssituation von LGBTI in Indonesien arbeitet. Die Verordnungen bewerten Informationen über LGBTI als „schädlich" und als „Propaganda".


Die pathologisierende Rhetorik, mit der seine Liebe zu Männern beschrieben wurde, machte Hendri Yulius wütend. Ein paar Monate später, im Exil in Singapur, nennt der Wissenschaftler die Medienverordnung „haltlos". Yulius, schwarze Hornbrille und Grübchen, ist Dozent für Geschlechterstudien an der Universität Sydney und Autor des Buchs Coming Out. Während in seinem Land die Forderung nach einer Kriminalisierung lauter wird, schreibt er einen Brief an Indonesiens Bildungs- und Kulturminister Anies Baswedan, der in der Huffington Post erscheint. Darin berichtet Yulius über seine Jugend, in der er von seinen Schulkameraden angepinkelt und gemobbt wurde. Sie nannten ihn baci, eine diffamierende Bezeichnung für „einen Mann, der sich kleidet wie eine Frau", oder bezeichneten ihn als „Pussy". In Indonesien sagt man, „sei kein baci ", und meint damit ängstlich und feminin.


Abgeschickt hat Yulius seinen Brief an den Kulturminister nie. „Ich hatte Angst", sagt er im Skype-Interview. Yulius beschreibt, wie er die Lage für LGBTI in Indonesien sieht. Beim Stichwort Freiheit wird seine Gestik bildschirmfüllend. Freiheit sei es, öffentlich die eigene sexuelle Orientierung zu leben. Den Partner seiner Wahl zu heiraten. Indonesien sei von einer Kultur des Coming-out weit entfernt.


„Das Auffallende seit diesem Jahr ist, dass die Attacken gegen LGBTI vor allem aus der Zivilgesellschaft kommen", sagt Yulius. Am äußeren rechten Rand der Debatte steht die Organisation Family Love Alliance (AILA). In Yulius' Worten: „eine muslimische Gruppe, bestehend aus Müttern, die sich um die soziale Struktur Indonesiens sorgt". Die Vereinigung fordert die Kriminalisierung von Homosexualität und möchte sie dem Paragrafen zuordnen, der Straftatbestände wie Pornografie, Pädophilie und Vergewaltigung regelt. Bewusst spielen sie zwei Menschenrechte gegeneinander aus: das Recht auf eine unversehrte Kindheit und das Recht auf Nichtdiskriminierung. Seitdem viel über die Organisation berichtet und Aussagen falsch wiedergegeben wurden, möchte sich AILA selbst nicht zur eigenen Forderung äußern oder auf die Frage antworten, was diese im Detail bedeuten soll.


Die zwei Seiten des Internets

Es ist nicht der erste Ruf nach einer Kriminalisierung in Indonesien. Neu aber ist, dass die feindliche Rhetorik in konkrete rechtliche Schritte mündet. 2015 trat in der muslimischen Provinz Aceh ein Gesetz in Kraft, nach dem gleichgeschlechtlicher Sex mit 100 Peitschenhieben bestraft wird. Indonesiens Verfassungsgericht berät derzeit über einen Fall, bei dem ein entsprechendes Urteil gleichgeschlechtlichen Sex das erste Mal national kriminalisieren könnte, berichtet Kyle Knight von Human Rights Watch. Er spricht von einer diskriminierenden Anti-LGBTI-Kampagne der Regierung, die von militanten muslimischen Gruppierungen geleitet sei.


LGBTI passe nicht in das religiöse Weltbild - das ist nur eines der Argumente, die in den Medien kursieren. In einer Auswertung der Massenmedien vom vergangenen Jahr filterte die Organisation Partnership for Governance Reform vier weitere heraus: Die Abweichung sei krankhaft, LGBTI-Aktivisten seien staatsgefährdend, kriminell und eine potenzielle Gefahrengruppe. LGBTI, durch seine plötzliche Popularität, wirkt bedrohlich. Im Februar äußerte der Außenminister, die Freiheit, die LGBTI- Aktivisten mittlerweile einfordern, sei „ein Atomkrieg, eine Bombe, die auf Jakarta fällt" und „gefährlich". Es sei die Angst der politischen Elite vor westlichem Einfluss, die stellvertretend auf die LGBTI-Gemeinschaft übergeht, beschreibt es Yulius. Regierungsvertreter sprechen währenddessen von einer „imperialistischen LGBTI-Invasion", befeuert durch Social Media.


Das soziale Netz ist für Yulius ein „zweischneidiges Schwert". Einerseits verstärke es homophobe Tendenzen. Twitter sei voll von Hasspredigten und Propaganda. Andererseits sei das Internet ein sicherer „anti-nationaler Raum", in dem sich die Gemeinschaft vernetzen könne. Online-Aktivismus sei unter den Radar der Regierung und konservativen Gruppen gerutscht, schreibt Yulius in einem seiner Blogs. In Klammern fügt er hinzu: „fast immer". Unter dem Vorwand, gegen Kinderprostitution vorzugehen, rechtfertigt die Regierung nun auch den Zugriff auf soziale Medien und übt dabei immer mehr Druck auf multinationalen Unternehmen wie Facebook und Google aus. Im Oktober berichtete die J akarta Post, dass ein schwules Paar verhaftet wurde, nachdem es ein gemeinsames Bild auf Facebook gepostet hatte.


Im Café im hinduistisch geprägten Ubud wirken die politischen Attacken gegen LGBTI noch fern, nicht aber der soziale Druck. „Die Regierung definiert, was normal ist", sagt April, daraus resultiere die gesellschaftliche Stigmatisierung. Nach einer Studie der Organisation Arus Pelangi hätten 80 Prozent der befragten LGBTI in ihrem Leben psychische Gewalt erfahren, knapp die Hälfte sogar physische. „Man sieht keine LGBTI mehr im öffentlichen Raum", flüstert April. Seit wir über die Rolle der Regierung sprechen, ist seine Stimme leiser geworden. Doch noch mehr als die Repressionen der Regierung fürchtet er die Blicke auf der Straße. Sein Nachbar brüllte ihm hinterher: „Besser du stirbst, wenn du nicht du selbst sein kannst." Dabei war April an dem Tag, an dem das passierte, genau das: er selbst, in der Kleidung einer Frau. Auf die Frage, ob sein Doppelleben nicht anstrengend sei, antwortet er: „Ich kenne es nicht anders." An den Wunsch, einmal seinen Partner heiraten zu können, denkt er nur noch selten. Es ist die resignierte Grundhaltung der LGBTI-Szene, die sich zurückgedrängt fühlt, zurück in das Versteckspiel - offline und seit vergangenem Jahr auch online.

Zum Original