Polly Roche über das Lebensgefühl ihrer Generation, das Jungsein in Zeiten von Corona und ihre Zukunftsträume
17 - ein weichenstellendes Alter, auch in oder trotz Corona-Zeiten. Model Polly Roche kann davon ein Lied singen. Gerade ist sie von Köln nach Berlin gezogen. Wir haben die Tochter von Schriftstellerin Charlotte Roche in ihrer neuen Wohnung besucht und mit ihr über das Lebensgefühl ihrer Generation, das Jungsein in Zeiten von Corona und ihre Zukunftsträume gesprochen.
Kleid: 032c; Blazer: 032; Schuhe: Hermès; Ohrringe: Arthur Arbesser
Wo und wie bist du aufgewachsen? Und was hat dein Leben bisher am stärksten geprägt?
Ich bin in Köln aufgewachsen mit meinen vier Eltern - den zwei leiblichen und deren PartnerInnen. Bis Anfang des Jahres war ich noch auf der Schule, und seit etwa einem Jahr modele ich nebenbei, das ist also noch ziemlich neu für mich. Meine Cousine ist schon mit 16 von zu Hause ausgezogen, ich fand das cool und wollte es auch so machen. Vor meinem Umzug war ich eigentlich gar kein großer Berlin-Fan. Aber als mein Freund hierherwollte, dachte ich: "Warum nicht? Warum sollte ich meine Vorurteile nicht überdenken?"
Ich kenne noch nicht viele Leute hier, aber ich fühle mich trotzdem nicht fremd. An meinem ersten Morgen war ich mit meinem Freund gemeinsam in einem winzig kleinen Café in Kreuzberg, dort haben wir Croissants gegessen. Das war ein Moment, der sich bei mir eingebrannt hat, weil es sich für uns beide so surreal angefühlt hat. Wir haben uns angeschaut und gesagt: "OK, this is it." Wir fahren nicht morgen wieder nach Hause, wir bleiben hier.
Rollkragen: Arthur Arbesser; Leggings: Arthur Arbesser, Strickkleid: Ports1961; Schuhe: Maison Margiela
Mit welchen Gefühlen bist du denn von zu Hause ausgezogen? Worauf hast du dich am meisten gefreut und wovon denkst du, dass du es vermissen wirst?
Auszuziehen war nicht so emotional, wie ich erwartet hatte, weil alles sehr schnell ging und ich ja weiß, dass ich zu Hause immer anrufen und vorbeikommen kann. Das vorherrschende Gefühl war eher Freude, weil ich hier noch nichts kenne, also mit 17 alles ganz neu entdecken kann und weil ich jetzt allein wohne. Das hat einen ziemlichen Thrill. Was ich vermissen werde, ist das Gefühl, komplett entspannt zu sein. Ich glaube, es wird etwas dauern, bis ich das hier auch habe. An meinem letzten Abend in Köln bin ich von meinem Freund aus zu mir nach Hause gefahren, da wurde ich emotional und dachte mir, dass mir solche Routen fehlen werden - von einem vertrauten Ort zum anderen vertrauten Ort. Genau zu wissen, wo man lang muss.
Kleid: Louis Vuitton
Für das Fotoshooting haben wir dich in deiner neuen Wohnung besucht. Wie war es, sich zum ersten Mal selbst einzurichten? Bist du ein Mensch, der an Dingen hängt, oder lebst du lieber minimalistisch?
Ich bin mit nur einem Koffer nach Berlin gekommen und in eine möblierte Wohnung gezogen. Die Einrichtung gefällt mir aber richtig gut, und sie ist sehr nahe an meinem eigenen Stil: alte Kinosessel, ein riesiger Holztisch ... Da war nichts, von dem ich gedacht habe, dass es schnellstmöglich weg muss. Aber ich werde mich auch auf Flohmärkten umschauen und, wenn es dann irgendwann wieder möglich ist, hoffentlich auch von Reisen schöne Dinge mitbringen. Mein Traum ist es, irgendwann ein großes Haus zu haben und das von null auf einzurichten. Ich würde niemals einen Interior Designer wollen, sondern alles selbst machen. Mein Stil ist bunt, aber irgendwie trotzdem clean. Jedes Stück hat eine Funktion, bei mir steht kein Krimskrams herum. Ich liebe Stein und Leder. Und ich muss jedes Stück wirklich mögen, ich würde nie etwas kaufen, nur weil ich schnell etwas brauche.
Look: Gucci
Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn man gerade durchstarten will und plötzlich wegen Corona nichts mehr ist, wie es einmal war? Macht dich das wütend oder kannst du auch positive Aspekte darin sehen?
Als ich noch in der Schule war, hatte ich nie einen konkreten Plan, was danach kommt. Es gab nur eine Sache, bei der ich mir absolut sicher war: Ich wollte eine große Reise machen, ein halbes Jahr oder vielleicht auch ein ganzes. Vietnam war mein Traum. Zu realisieren, dass das nicht passieren wird - oder zumindest erst einmal nicht -, ist mir ziemlich schwergefallen. Klar kann man alles nachholen, aber dieses Gefühl von "Die Schule ist aus, jetzt lege ich los" fehlt dann.
Es hat gedauert, bis ich mich damit arrangiert habe. Ich war aber trotzdem von allen Leuten in meinem Alter um mich herum am wenigsten wütend deswegen. Die vergangenen Monate haben mir beigebracht, geduldig zu sein - das war bisher immer mein größtes Problem. Mittlerweile bin ich zuversichtlich, dass sich alles fügen wird. Wenn man das tut, worin man gut ist und woran man Spaß hat, werden früher oder später die richtigen Leute kommen und das wahrnehmen.
Look: Prada
Und was denkst du generell über deine Generation und ihre Zukunft? Wenn du mit FreundInnen zusammen bist, was sind die Themen, über die ihr diskutiert und die euch beschäftigen?
Ich bin ziemlich stolz, Teil meiner Generation zu sein, weil ich das Gefühl habe, dass sie bereit ist, für viele überfällige Veränderungen zu kämpfen. Zum Beispiel gegen Rassismus, für Gleichberechtigung ... Meine FreundInnen sind so wach. So wissbegierig. Sie lesen viel und wollen sich informieren. In Köln waren mein Freundeskreis und ich bei jeder Fridays-for-Future-Demo. Wenn man nicht demonstrieren gegangen ist, fiel das richtig auf. Das ist sicherlich extrem und eine Blase, weil man sich ja auch mit Menschen befreundet, deren Ansichten man teilt. Aber es ist trotzdem schön. Dass man sich für etwas einsetzen sollte, haben mir meine Eltern mitgegeben, die sind selbst ja sehr politisch. Sie finden es toll, was in meiner Generation passiert.
Bluse: Celine; Pollunder: Missoni; Gelber Mantel: Alexandre Vauthier
In den vergangenen Jahren warst du immer häufiger in der Öffentlichkeit zu sehen. Was reizt dich daran und wie sind deine Erfahrungen damit?
Das ist gar nicht so bewusst passiert. Vor einem Jahr habe ich angefangen, jeden Tag auf Instagram Tanzvideos zu posten, und dadurch wurden meine FollowerInnen mehr, und ich habe angefangen, mehr mit ihnen zu interagieren. Man muss einfach ein gesundes Verhältnis zu Social Media aufbauen, die ständigen Vergleiche können toxisch sein, aber wenn man es als Inspirationsquelle sieht und als etwas, worüber man neue Leute kennenlernen kann, dann ist das doch positiv.
Klar besteht die Gefahr, dass man in einem Mikrokosmos landet und eine romantisierte Version des Lebens für die Realität hält. Und nur weil man sich ein paar Politik-Memes angeschaut hat, ist man ja noch nicht informiert. Es ist wichtig, außerhalb der sozialen Medien auf dem neuesten Stand zu sein, mit anderen Menschen über wichtige Themen zu diskutieren; zum Beispiel was gerade alles falsch läuft in Polen in Hinsicht auf reproduktive Rechte, wie man selbst antirassistische Arbeit leisten kann ... Es gibt immer noch sooo viel mehr, was man machen kann.
Mantel: Fendi; Kleid: Elliss
Jetzt aber erst einmal konkret gedacht: Was sind deine Pläne für die nächsten Monate? Was erhoffst du dir von deinem Umzug nach Berlin?
Ich bin ja auch hierherhergezogen, um mit dem Modeln weiterzumachen. Darin blühe ich gerade total auf. Viele Leute denken, dass es eher schlecht für das Selbstbewusstsein ist, wenn man anfängt zu modeln, weil man sich ständig mit anderen vergleicht. Aber in mir hat es viel Positives ausgelöst. Ich habe mich noch nie so selbstbewusst gefühlt wie jetzt im Moment. Weil ich glaube, dass ich gut darin bin, und das Wissen, etwas gut zu können, gibt einem Selbstvertrauen. Modeln ist aber nicht das Einzige, was ich machen will, ich würde auch gern eine Ausbildung anfangen. Ich denke schon seit ein paar Jahren über Tischlern oder Schreinern nach. Keine Ahnung, woran das liegt. Meine Cousine ist zwar auch Schreinerin geworden, aber der Wunsch war schon vorher in meinem Kopf.
Hemd, Blazer, Hose: MSGM; Glitzer-Top: Miu Miu
Was fasziniert dich an Mode?
Sich ausdrücken zu können - dafür ist Mode das beste Mittel. In andere Rollen zu schlüpfen. Und Mode bringt verschiedenste Menschen zusammen. Wo sonst schaffen Leute mit so vielen unterschiedlichen Hintergründen etwas gemeinsam? Mein Ziel beim Modeln ist es, ein noch viel weiteres Spektrum an Körperformen zu normalisieren. Ich liebe es zu sehen, was Rihanna gerade mit ihrer Marke Fenty macht. Da schnappe ich jedes Mal nach Luft und fühle mich total inspiriert wegen der Vielfalt an Models.
Mein eigener Traum war immer, über einen Laufsteg zu laufen, aber ich bin nicht supergroß oder -dünn, deshalb will ich umso mehr dafür eintreten, dass das möglich ist. Und ich will, dass Frauen, die gesund leben, nicht vermittelt wird, es sei nicht genug, was sie tun. Man muss nicht in eine Norm passen, um das zu machen, was man liebt. Niemandem sollte die Tür vor der Nase zugeschlagen werden. Deshalb bin ich total dankbar, dass ich von einer Agentur wie Le Management vertreten werde, die mir immer das Gefühl gegeben hat, dass ich am richtigen Ort bin. Vor allem mein Agent Manuel ist eine total warme, energetische, unterstützende Person.
Kleid: Alexander McQueen; Handschuhe: Maison Margiela; Strumpfhose: Stine Goya
Du scheinst sehr in dir selbst zu ruhen. Wann hast du zuletzt etwas dazugelernt?
Ich habe neulich mit meinem Dad gefacetimt, und er hat mir von einem Zitat des Kabarettisten Herbert Feuerstein erzählt: "Ich bin kurz vor meinem Ende und kann das testamentarisch verkünden: dass es überhaupt keinen Sinn hat, sich zu bemühen, etwas besonders gut zu machen. Man muss das machen, was man selbst für gut hält. Wenn man Glück hat, gibt's dafür ein Publikum, das das akzeptiert. Wenn man Pech hat, ist man weg vom Fenster." Das hat mir imponiert, weil seine schlechteste Zukunftsvision immer noch etwas Gutes beinhaltet - etwas getan zu haben, was man wirklich wollte. Mein Vorbild in der Hinsicht ist Bob Dylan. Meine ganze Kindheit war geprägt von ihm. Er ist so in seiner eigenen Welt. Er macht, was er liebt, und hat sich nie darum bemüht, erfolgreich zu sein. It just happened. Deshalb trage ich auch das Tattoo "Blonde on Blonde", das ist ein Albumtitel von ihm.
Und welchen Ratschlag hast du von zu Hause mitbekommen, der immer in deinem Hinterkopf ist?
Ratschläge sind nicht mein Ding. Ich bekomme in jedem Gespräch mit meinen Eltern und meinem Freund sehr viel Liebe und Unterstützung vermittelt. Aber ich bin der Meinung, dass man nie im selben Moment genau das fühlen kann, was die Person, mit der man redet, fühlt - und vor allem nie in genau demselben Ausmaß. Man kennt nicht die ganze Geschichte und welche vergangenen Erfahrungen diesem Menschen gerade durch den Kopf gehen. Deshalb sollte man anderen gegenüber immer offen sein.
Kleid: Moncler x Richard Quinn
Zum Schluss die Frage: Was bedeutet es für dich, ein schönes, wahres Leben zu führen?
Präsent zu sein, im Hier und Jetzt zu leben, Gefühle zuzulassen, nichts zu unterdrücken. Sich selbst zu hinterfragen, Fehler zu erlauben und aus ihnen zu lernen, nie den Wissensdurst zu verlieren. Und zu lieben. Es hört sich so simpel an, aber wenn man jeden Tag ein Stückchen mehr lernt, sich und andere zu lieben, ist das der der erfüllendste Zustand.
TEAM
Photographer: Patrice Brylla @patricebrylla
Artistic Director: Oliver Tippl @olivertippl
Styling: Marian Schlicker @archive.marian
Hair & Make-up: Philipp Verheyen @philippverheyen
Light Assistent: Viktor Ebell @viktorebell
Styling Assistent: Lidwina Schlicker @lidwina_sck
Talent: Polly Roche @pollyroche
Agency: Le Management @lemanagement