Der Bürgermeister der russischen Hauptstadt will 8000 sowjetische Plattenbauten abreissen und 1,6 Millionen Moskauern neue Wohnungen bauen. Die Entscheidungen fällt er über ihre Köpfe hinweg.
Wenn es nach Lidia Leonidowna ginge, dürfte ihr Wohnhaus noch ein paar Jahre erhalten bleiben. Die Ingenieurin im Ruhestand hat es sich mit ihrem Mann gemütlich gemacht in dem fast sechzig Jahre alten Plattenbau im Nordosten von Moskau. Ihr rotbraunes Holzmobiliar passt beinah zum abgeschliffenen Parkett. In Vitrinen stehen bronzene Sammelfigürchen. Draussen wiegen sich blattlose Baumkronen, drinnen ist es warm. "Die Heizkörper wurden nie ausgetauscht, funktionieren aber einwandfrei", sagt die Moskauerin. Neue Fenster aus Kunststoff haben sie vor zehn Jahren einsetzen lassen, obwohl es damals schon hiess, man werde fünfgeschossige Plattenbauten wie diesen bald abreissen. "Seid Ihr verrückt, jetzt noch zu investieren?", fragten Freunde. "Ich lebe jetzt", antwortete Lidia.
Von aussen sieht das quaderförmige, schmutzig-weisse Wohnhaus so trist aus wie aufeinandergestapelte Garagen. Die Decken sind niedrig und die Wände dünn. "Zum Glück machen unsere älteren Nachbarinnen kaum Lärm", sagt Lidia Leonidowna, die sich nur mit Vor- und Vatersnamen vorstellt und ihren Familiennamen nicht in der Zeitung lesen möchte. In drei Zimmern auf 58 Quadratmetern zuzüglich Balkon lebt sie so grosszügig wie nur möglich in dem Wohnhaus des Typs K-7, der ersten sowjetischen Serien-Immobilie. Alle anderen Wohnungen des Gebäudes sind noch kleiner. Lidia wäre zufrieden mit ihrem Eigentum, wäre nur die Küche geräumiger. Doch selbst auf 6 Quadratmetern schafft sie es, einen Tisch für drei Personen zu decken mit selbstgekochten Marmeladen und starkem Tee.
Man nennt solche Wohnhäuser "Chruschtschowki", nach dem Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow, der sie in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren überall in der Sowjetunion errichten liess. Eigentlich hätten die aus Betonfertigteilen zusammengesetzten Bauten nur zwei oder drei Jahrzehnte überdauern und dann ersetzt werden sollen. Doch noch heute leben Millionen von Menschen in Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den frühen Plattenbauten. Nicht wenige sind desolater als Lidias Wohnblock. Als Juri Luschkow von 1992 bis 2010 Bürgermeister von Moskau war, liess er schon mehr als 1500 Gebäude abreissen.
Nun soll das Ende der "Chruschtschowki" rasant beschleunigt werden. Kein Geringerer als Präsident Wladimir Putin gab den Anstoss. Bei einem vor Fernsehkameras aufgeführten Gespräch mit dem Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin empfahl Putin Ende Februar, nicht länger Geld in die Sanierung zu stecken, sondern neu zu bauen. Sobjanin nahm den Vorschlag freudig auf. Bis Ende 2018 will er fast 8000 Häuser mit 600 000 Wohnungen und 25 Millionen Quadratmetern Wohnfläche niederreissen, ein Zehntel von Moskaus gesamter Wohnfläche. Betroffen sind die Häuser der K-7-Serie, aber auch neun- und zwölfgeschossige Platten- und Ziegelbauten späterer Jahre.
Den 1,6 Millionen Besitzern und Bewohnern der "Chruschtschowki" verspricht der Bürgermeister grössere und modernere Neubauwohnungen in ihrem Stadtteil mit ausreichend Platz für Kinderwagen in den Fluren. Statt 8 Quadratmetern Wohnraum pro Person seien heute 18 Quadratmeter Standard. Die Kosten des gigantischen Bauprojekts veranschlagt die Stadt auf umgerechnet rund 60 Milliarden Franken. Unabhängige Experten fürchten, es könnte noch teurer werden - und mindestens zwanzig Jahre dauern. Ein grösseres Abriss- und Neubauprojekt hat es in Russland nie gegeben.
Lidia hat grundsätzlich nichts einzuwenden gegen einen Umzug in ein neueres Gebäude. Doch über die Einzelheiten macht sich selbst die erklärte Optimistin Sorgen. Werden sie wirklich im selben Stadtteil bleiben können? Zusammen mit der Tochter, deren Wohnblock sie vom Wohnzimmerfenster aus sehen können? Oder sollten sie vielleicht versuchen, lieber gleich alle Wohnungen am Südrand der Stadt zu bekommen, um die lange Fahrt zu ihrem Sommerhaus etwas zu verkürzen? Noch versucht die Pensionärin, die ambitionierten Pläne der Stadt als Chance zu betrachten.
Viele Bewohner der "Chruschtschowki" waren nach Sobjanins vollmundiger Ankündigung zunächst zuversichtlich. Fast alle wollen besser wohnen. Doch nach zwei Monaten Gerüchten und Versprechungen haben die meisten inzwischen Angst, gegen ihren Willen in ein 25-stöckiges Hochhaus am Stadtrand verpflanzt zu werden oder kräftig zur Kasse gebeten zu werden für eine Wohnung in besserer Lage.
Der Grund für die Angst der Leute ist ein neues Gesetz, das Moskauer Abgeordnete eilig ins Parlament eingebracht haben, um eine Rechtsgrundlage für den präzedenzlosen Abriss zu schaffen. In erster Lesung wurde es bereits angenommen. Vor der endgültigen Abstimmung werden noch Details ausgearbeitet. Das Gesetz schränkt die Rechte der Wohnungsbesitzer in den sogenannten Renovierungszonen ein. Es erlaubt der Stadt, die Plattenbauten eines ganzen Blocks zusammen abzureissen und jedes beliebige andere Gebäude, das sich in der Zone befindet. Bewohner haben laut der letzten Fassung des Gesetzentwurfs nur sechzig Tage Zeit, dem Wohnungsangebot zuzustimmen, das ihnen die Stadt unterbreitet - oder sich gerichtlich dagegen zu wehren.
In einer vagen Formulierung sieht der Entwurf auch eine Abstimmung der Bewohner über das Schicksal ihres Hauses vor. Die Stadt Moskau organisiert dieses Votum auf der Website "Aktiver Bürger". Doch angesichts der Vollmachten, die sich die Stadt gleichzeitig verschafft, dürfte die Abstimmung bestenfalls dem pseudodemokratischen Anstrich dienen.
Gegner werfen Sobjanin autoritäre Modernisierung vor, sprechen von drohender Enteignung und Deportation durch die Bau-Oligarchie. Internet-Gruppen gegen den Abriss gewinnen täglich neue Mitglieder. Sollte das monströse Projekt als Wahlkampfhilfe für Putins Präsidentschaftskampagne im kommenden Jahr gedacht gewesen sein, könnte dieser Plan nach hinten losgehen. Auch der bis anhin aufgrund seiner regen Renovierungstätigkeit in Moskau recht beliebte Bürgermeister Sobjanin zieht wegen des übereilten Feldzugs gegen die "Chruschtschowki" zunehmend Zorn auf sich.
Bei Bürgeranhörungen kommt es im April in mehreren Stadtteilen zu tumultartigen Szenen. Beim Kulturzentrum in Lidias Bezirk Ismailowo drängen Hunderte empörter Menschen in einen Raum, der für maximal 150 Gäste ausgelegt ist. Als die Veranstalter das Treffen trotzdem nicht verlegen wollen, skandieren die vornehmlich älteren Leute im Korridor und auf der Strasse ausdauernd "Schande!". Dies ist ein Ausruf, den man sonst bei politischen Protesten von deutlich jüngeren Moskauern hört.
Drinnen versucht die Vertreterin der Verwaltung vergeblich, die Gemüter zu beruhigen. Es stehe doch noch gar nicht fest, welche Häuser überhaupt abgerissen würden, sagt sie. Das entschieden die Bürger ganz allein. Bis zum 1. Mai lege die Stadt eine vorläufige Liste der Gebäude vor, dann dürften alle Bewohner abstimmen. "Aber wie viele Bewohner müssen dagegen sein, damit ein Haus stehen bleibt?", ruft eine Frau mit gerötetem Gesicht. Keine Antwort. "Was passiert mit meiner Wohnung, wenn ich eine Hypothek aufgenommen habe?", fragt ein jüngerer Mann. Auch darauf weiss die Verwaltungsvertreterin nichts zu sagen. Es steht nichts über Hypotheken im Gesetzesentwurf.
Die alten "Chruschtschowki", so klein und primitiv sie auch aussehen, sind im Gedächtnis der älteren Menschen eine soziale Wohltat geblieben. Millionen von Sowjetbürgern zogen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die grossen Städte. Doch es gab kaum Wohnraum. 1950 hauste die Hälfte der damals 5 Millionen Moskauer in Baracken und Gemeinschaftswohnungen, in denen man sich mit mehreren Familien Toilette und Küche teilen musste.
Nikita Chruschtschow erkannte die Not und liess billige und schnell zu errichtende Plattenbauten entwerfen. Ein Haus der Serie K-7 wie das von Lidia konnten besonders schnelle Brigaden in vierzehn Tagen errichten. Zwischen 1955 und 1964 erhielten 54 Millionen Menschen - ein Viertel der sowjetischen Bevölkerung - eine eigene Wohnung. Bis 1975 baute der Sowjetstaat ganze 1,3 Milliarden Quadratmeter Wohnraum. Spätere Serienhäuser waren höher, hatten Fahrstühle und Müllschlucker.
Mit den Wohnungen hat Chruschtschow das Verhältnis des Sowjetstaates zu seinen Bürgern humanisiert. Statt Repression und Verfolgung bot der Staat nun einen positiven Anreiz, die eigenen vier Wände. Die einfachen Quader mit Grünflächen dazwischen wurden schmucklos belassen und nicht individualisiert, ganz im Sinne der gleichmacherischen kommunistischen Ideologie. Mit den Wohnungen gewannen die Menschen trotzdem ein Stück Intimsphäre, einen Schutzraum, in dem in der Tauwetterstimmung nach Stalins Tod auch politische Gespräche geführt werden konnten, die man sich in den Gemeinschaftsküchen aus Angst vor Verrat verkniffen hatte.
Bürgermeister Sobjanin und der Stadtarchitekt Sergei Kusnezow präsentieren ihre einschneidenden Pläne ebenfalls als soziale Wohltat für die Betroffenen. Wirtschaftlich gewännen die Leute, die sich an dem Renovierungsprogramm beteiligen, nur, antwortet Kusnezow auf schriftlich gestellte Interviewfragen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass sie grössere Wohnungen in einem qualitativ hochwertigeren Umfeld bekämen. "Wir wollen die Möglichkeiten, die sich hier eröffnen, maximal ausnutzen, also nicht einfach alte durch neue Häuser ersetzen, sondern um die neuen Wohnhäuser eine neue Umgebung schaffen", schreibt Kusnezow: neue Fussgängerzonen und neue Infrastruktur. Monotones werde man nicht zulassen. Die neuen Hochhäuser sollen individuell gestaltet werden. Die geplanten Veränderungen seien radikal, aber zum Wohle der Stadt.
Genau das bezweifeln jedoch andere Architekten und Städteplaner. Die Neubauten, die anstelle der "Chruschtschowki" gebaut werden, sollen bis zu fünfmal höher sein. Nur ein Drittel der Wohnungen soll von den Bewohnern der alten Plattenbauten bezogen werden, der Rest wird an neue Moskauer verkauft und vermietet. Die Bevölkerung von Moskau, die inoffiziell schon jetzt auf 15 Millionen geschätzt wird, könnte um weitere 3 bis 5 Millionen Menschen wachsen. Gegner des Projekts sehen noch mehr Verkehr für die Bürger der Metropole voraus.
Lidia Leonidowna weiss, dass der grösste Luxus ihrer "Chruschtschowka" die Grünfläche vor dem Fenster ist - und der eigene Parkplatz direkt vor der Tür. Früher hat sie auf dem Streifen Erde hinter dem Haus auch noch Gemüse angebaut. Doch seit ihre Familie ein Sommerhaus mit Garten hat, überlässt sie ihn der Nachbarin. "So schön wie hier werden wir es in den neuen Häusern sicher nicht haben", sagt sie. Aber erst einmal will sie abwarten. Schliesslich hat es schon einmal unter Bürgermeister Luschkow geheissen, man werde bald alles abreissen. Da könnten in Wirklichkeit noch viele Jahre vergehen, meint Lidia. Und ihr Leben lebt sie jetzt.