Ann-Dorit Boy

Journalistin / Korrespondentin

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Artikel

Unwürdiges Geschäft mit dem Tod | NZZ

Kaum eine Branche in Russland ist so wenig reguliert und korrupt wie das Bestattungswesen. Ein neues Gesetz soll kriminellen Agenten das Handwerk legen. Doch es könnte vor allem dem Moskauer Monopolisten nützen.


Es braucht einen rabenschwarzen Humor und eine ausgeprägte Phantasie, um sich die Schauerlichkeiten auszudenken, die bei Beerdigungen in Russland tatsächlich passieren. In Tscheljabinsk am Ural präsentierte im Januar ein Bestattungsunternehmer der trauernden Familie eine fremde Grossmutter im Sarg. Als sich die Angehörigen beschwerten, behauptete der Bestatter, alles sei in bester Ordnung. Die richtige Grossmutter war unterdessen bereits von einer anderen Familie beerdigt worden. Dieser war die Verwechslung nicht aufgefallen, obwohl man sich in Russland traditionell am offenen Sarg von Verstorbenen verabschiedet.

Die Enkelin der ersten Familie wurde unlängst vom Staatsfernsehen eingeladen, in eine Sendung, die vollständig dem chaotischen Beerdigungsgeschäft gewidmet war. Moderatoren und Gäste fragten, wie es sein könne, dass die russischen Bürger gerade im tiefsten Schmerz so oft Gaunern und Pfuschern zum Opfer fielen. Keine Branche ist so katastrophal vernachlässigt und korrupt wie das Bestattungswesen. Doch es kündigt sich ein Wandel an.

Das erste Anzeichen war eine Schlägerei auf dem Chowanskoje-Friedhof, dem grössten Friedhof in Moskau und vermutlich in ganz Europa, der sich am Südwestrand der Stadt auf fast zwei Quadratkilometern zwischen einer Abfalldeponie und Baumärkten erstreckt. Seit 45 Jahren werden Moskauer an diesem Ort begraben. Ihre Gesichter, auf Keramikmedaillons gedruckt oder in den glatten Stein der Grabsteine graviert, erzählen die Geschichte der Hauptstadt eines Vielvölkerreichs: slawische Wangenknochen, asiatische Augen, manche Grabsteine ziert ein Halbmond.

Im Mai 2016 wurde hier gekämpft. Bewaffnete Männer tauchten plötzlich zwischen den Gräbern auf und griffen die Tadschiken an, die im Frühling hier illegal ihr Geld als Totengräber verdienen. Die Tadschiken schlugen mit Schaufeln und Steinen zurück. Mehr als 200 Leute sollen in die Schlägerei verwickelt gewesen sein. Am Ende lagen drei Männer tot am Boden, und fast dreissig waren verletzt. Zuerst wurde die Prügelei als ethnischer Konflikt, als Rangelei unter Gastarbeitern abgetan. Doch dann stellte sich heraus, dass unter den Festgenommenen auch nationalistische Schläger waren, die im Auftrag des Friedhofdirektors Schutzgelder erpressen oder die Tadschiken gleich ganz vertreiben sollten. Von einem "Krieg" um den Friedhof schrieben die Zeitungen. Fünfzig Arbeiter wurden abgeschoben, der Direktor kam in Haft.

Der Moskauer Soziologe Sergei Mochow bezeichnet den Vorfall von Chowanskoje als einen Indikator für Veränderungen, genauer Umverteilungskämpfe auf dem hochprofitablen Markt der Bestattungen. Das Bauministerium hatte der Regierung kurz vor der Schlägerei einen neuen Gesetzentwurf über Bestattungsangelegenheiten zur Begutachtung vorgelegt. Mit einem Skandal könnten Interessengruppen Einfluss auf den Rechtstext ausüben, meint Mochow, der im Rahmen seiner Dissertation die Trauerkultur im sowjetischen und im postsowjetischen Russland untersucht. Das Gesetz ist inzwischen noch einmal überarbeitet worden und steht nun angeblich kurz vor dem Abschluss. Dafür sprechen laut Mochow die jüngst wieder auffällig häufigen Medienberichte über Pannen und Betrugsfälle zwischen Leichenhalle und Friedhof, die von Interessengruppen lanciert werden.

Wie das Bestattungs-Business zu dem wurde, was es ist, kann Mochow anschaulich erklären. Vor der Revolution von 1917 verwaltete die Kirche die Gottesacker im Zarenreich, kassierte von Angehörigen Gebühren und beerdigte die Toten gemäss ihrem Rang. In den Grossstädten pflegten die Bürger europäische Trauerrituale und legten parkähnliche Friedhöfe à la Père Lachaise an. Die Bolschewiken schafften beide Traditionen ab, propagierten Krematorien in Städten, kümmerten sich aber eigentlich nur um Heldengräber. Obwohl Beerdigungen offiziell Sache des Staates waren, herrschte de facto Anarchie auf den Friedhöfen. Sowjetbürger hoben die Gräber ihrer Angehörigen oft selbst aus und bastelten die Grabsteine aus Metallresten, Holz und Lehm.

Unter Präsident Boris Jelzin setzte sich die Anarchie fort. Das 1996 von ihm unterzeichnete Gesetz zu Bestattungen regelt fast nichts. Nur eines: Friedhöfe und Krematorien bleiben in öffentlicher Hand, und jedem Bürger steht eine kostenlose Grabstelle zu. Das Nähere bleibt den örtlichen Verwaltungen überlassen. Die Gemeinden wollten aber weder Geld investieren noch Verantwortung übernehmen. Rund 90 Prozent der Friedhöfe in Russland hätten deshalb nicht einmal eine Katasternummer, sagt Mochow. Im juristischen Sinne gebe es diese Friedhöfe nicht, und niemand könne überprüfen, wo Millionen russischer Bürger begraben lägen.

Weil die Regierung auf der anderen Seite auch keine gesetzlichen Rahmenbedingungen für ein privatwirtschaftliches Bestattungswesen geschaffen hat, haben findige Kleinunternehmer ein Geschäft daraus gemacht, den Zugang zur häufig sehr heruntergekommenen staatlichen Infrastruktur zu verwalten. Manche öffneten kleine Büros, manche setzten sich direkt in die Foyers der staatlichen Krematorien und nahmen Geld für Dienstleistungen, die dem Gesetz nach kostenfrei sind: die Herausgabe des Leichnams aus der Leichenhalle, die Einäscherung, das Ausheben der Grube, den Transport des Sargs.

Moskau stellt in einer Hinsicht eine Ausnahme dar. Alle 136 Friedhöfe der Hauptstadt sind offiziell registriert und werden von der staatlichen Behörde Ritual verwaltet, die auch selbst Bestattungen durchführt. Nach Angaben des Direktors von Ritual, Artjom Jekimow, werden in Moskau jedes Jahr rund 100 000 Bestattungen vorgenommen, für die im Durchschnitt umgerechnet 870 Franken bezahlt werden. Der Umsatz des Beerdigungsgeschäftes in der Hauptstadt liegt damit bei insgesamt 87 Millionen Franken, einem Viertel des gesamtrussischen Umsatzes. Nach Jekimows Worten entfallen etwa 15 Prozent der enormen Summe auf seine Behörde. Weitere 15 Prozent verdienen rund zwanzig legal tätige Bestattungsunternehmen, und der Rest versickert in einem wild wuchernden Schwarzmarkt von geschätzten 2000 illegalen Agenten.

Diese "schwarzen Agenten" erfahren vom Tod eines Moskauers, noch ehe es die Freunde des Verstorbenen wissen. Polizisten, Ärzte und Mitarbeiter von Leichenhallen bessern ihre mageren Gehälter auf, indem sie die Namen und Adressen jüngst Verstorbener für umgerechnet rund 400 Franken an Bestattungsagenten verkaufen. Diese rufen die Hinterbliebenen an oder klingeln gleich an der Tür, um ihre Dienste bei der Beschaffung einer Grabstelle und der Organisation der Bestattung anzubieten. Fast immer verlangen sie stark überhöhte Preise für oft bescheidene Dienste. Das für die Adresse bezahlte Schmiergeld wird dem Kunden indirekt auf die Rechnung gesetzt.

Das neue Gesetzesprojekt ist in der letzten veröffentlichten Fassung schon dem Umfang nach fünfmal länger als das alte Gesetz aus den neunziger Jahren. Es regelt die Lage und die Beschaffenheit von Friedhöfen, die staatliche Fürsorge für Verstorbene ohne Angehörige und viele andere Fragen detaillierter als das geltende Recht. Der Entwurf sieht private Krematorien und Nischengrab-Anlagen vor, an beiden herrscht Mangel in Russland. Private Friedhöfe soll es allerdings nicht geben. Unklar ist noch, wie die Lizenzvergabe an Bestattungsunternehmen im Detail aussehen soll. Im Gesetzentwurf ist zumindest von Strafen für Regelverstösse die Rede, aber die Regeln müssen noch ausgearbeitet werden. Zurzeit sind nicht einmal die Abmessungen von Sarg und Grube vorgeschrieben. Aber egal, wie sorgfältig der Gesetzestext die Standards auch regle, wenn die Aufsicht wieder nur pauschal an die örtlichen Behörden delegiert werde, bleibe alles beim Alten, meinen Kenner der Branche.

Ilja Boltunow, ein junger Bestattungsunternehmer aus Kaluga, 200 Kilometer südwestlich von Moskau, ist mit dem Wissenschafter Mochow befreundet. Gemeinsam fahren sie nach Westeuropa zu Konferenzen, um sich zu informieren, wie Bestattungen dort geregelt sind. Am liebsten wäre es Boltunow, wenn sich seine Branche wie in Amerika völlig frei entfalten und selbst regulieren dürfte. Der Konkurrenzdruck würde dann die Qualität regeln. Im Bausektor habe das in Russland einigermassen funktioniert. Doch daran sei den Gesetzgebern gar nicht gelegen, glaubt der Unternehmer.

Die Moskauer Behörde Ritual, die aus dem Skandal um ihren Friedhofsdirektor von Chowanskoje erstaunlich unbeschadet herausgekommen ist, hat erklärt, in den kommenden paar Jahren bis zu 50 Prozent des Moskauer Marktes übernehmen zu wollen. Dazu baut sie gerade im Zentrum ein "multifunktionales Bestattungszentrum" auf 3000 Quadratmetern. Als Vorbild führt der Direktor von Ritual China an, wo es ähnliche Einrichtungen gebe. Der Unternehmer Boltunow bezeichnet das Projekt als "sowjetischen Grössenwahn", der mit den Bedürfnissen der Leute nichts zu tun habe. Aber Gesetze seien schon immer in Moskau und für Moskau gemacht worden, sagt er. Der Rest des Landes wurstle sich dann irgendwie durch.


Russland bleibt stabil korrupt

boy. · Die alltägliche Korruption in Form von kleinen Schmiergeldern für Dienstleistungen bleibt in Russland allgegenwärtig. Für Staatsangestellte mit niedrigen Löhnen stellt sie eine zusätzliche Einnahmequelle dar. Dies mag einer der Gründe sein, warum die russische Führung anders als die chinesische Regierung bis anhin kein echtes Interesse an der Korruptionsbekämpfung gezeigt hat. Auf dem Index der Organisation Transparency International steht Russland in diesem Jahr auf Platz 131 von 176 Ländern. Damit bleibt die russische Korruption im Vergleich zum Vorjahr auf hohem Niveau stabil. Zwar hatte Russland 2016 noch auf Platz 119 gestanden, doch war die Länderliste damals noch etwas kürzer. Die Nichtregierungsorganisation versucht mit ihrem Index jeweils das Ausmass von Bestechung und Filz abzubilden und stützt sich dabei auf Experten-Einschätzungen und Meinungsumfragen. Schlechter als Russland schnitten in der neusten Liste vor allem Länder ab, in denen zurzeit bewaffnete Konflikte stattfinden. Verschärfte Gesetze gegen Korruption, die in den vergangenen Jahren verabschiedet wurden, haben sich damit als wirkungslose Feigenblätter erwiesen. Regierungskritische Korruptionsbekämpfer wie der Oppositionelle Alexei Nawalny erheben schwere Anschuldigungen gegen die Staatsführung, zuletzt gegen den Regierungschef Dmitri Medwedew, der sich mithilfe von Strohmännern ein milliardenschweres Immobilien-Imperium geschaffen haben soll. Eine frühere Recherche Nawalnys deckte Korruption im Umfeld des russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika auf.

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