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Kolumne

Superkraft

Ich war also an den Tegernsee gefahren.
Der Plan lautete, eine bescheidene Bleibe
am See zu beziehen, um von dort aus die
sagenhafte Landschaft zu inspizieren. Zum
Beispiel plante ich, auf den Hirschberg zu
wandern, dessen kolossaler Fernblick bereits
Thomas Mann verzückt haben soll. Ich wollte,
wenn auch nicht um jeden Preis, im 16 Grad
kalten See baden. Auf jeden Fall aber hatte
ich vor, auf den geranienverhangenen Balkonen
meiner Ferienwohnung zu sitzen, welche
exakt so ausgerichtet waren, dass sie die
Sonne von morgens bis abends zubrutzelte.
Das war der Plan. Aber: es regnete.

Nun ist Regenwetter im oberbayerischen
September nichts Ungewöhnliches. Dass
es an fünf von sieben Tagen wie aus Eimern
schüttete, vermieste mir die Laune, aber da
ich eine weitgehend schlichte Natur besitze,
hielt das ganze nicht lange vor. Ich warf
meine Pläne über den Haufen und beschloss,
die Sache durchzuziehen. Unbeeindruckt
flanierte ich die Seepromenade entlang. Ich
setzte mich ins Café Seeblick, das, wie der
Name sagt, einen Eins-a-Seeblick offerierte.
Der Regen prasselte auf die graue
Wasseroberfläche, ich bestellte Cola und
plauderte in meinem feinsten oberbayerischen
Dialekt mit dem Kellner.

Dass ich in der Gegend grundsätzlich
ohne Sorge laufe, liegt vor allen Dingen an
der Sprache. Ich habe die Theorie, dass
mich meine mittelbayerische Abstammung
mit der erstaunlichen Fähigkeit ausgestattet
hat, bayerische Dialekte weitgehend mühelos
anzunehmen. Meine Freundin hält das für
Unsinn, aber ich sehe darin so etwas wie eine
Superkraft. Schon lange fehlt in der Liga für
Superhelden ein Sprachenwandler, der
Dialektor. Die Superkraft des humpelnden,
mittelalten Mannes besteht darin, dass er
gerne Dialekt spricht, und wie so viele
Superhelden vor ihm, ist freilich auch der
Dialektor als Journalist getarnt.

Ausgestattet mit seiner Superkraft war der
Dialektor vor wenigen Monaten nach
Höchstadt gekommen, wo er sich, wie er
selbst sagt, mehr und mehr zurechtfindet,
aber es gebe hier auch noch vieles zu tun.

Für gewöhnlich patrouilliert der Dialektor
dreimal die Woche durch die Hauptstraße.
Er biegt dann oft rechts ab und
verschwindet in der Metzgerei Brunner,
wo er mit Nachdruck daran arbeitet, seinen
Cholesterinspiegel in die Höhe zu treiben.
Ansonsten hält sich Höchstadts neuer
Superheld bedeckt, manche behaupten,
er fürchte eine Blamage. Andere sagen,
der Dialektor verbringe viel Zeit auf seinem
irre gut aussehenden Velourssofa, wo er
wegen einer hartnäckigen Knieverletzung
weiterhin Trübsal bläst. Das Stadtgeschehen
jedoch, so sagt der Dialektor, habe er stets im
Blick, denn es gebe hier viel Berichtenswertes
zu erblicken.

Am Tegernsee zogen die Wolken an Tag
sechs ab. Die Touristen schipperten
maskiert und mit großen Sonnenbrillen
auf Ausflugsbooten übers Wasser. Der
Dialektor bewegte sich unauffällig, aber er
war vorbereitet, als er an einer Bushaltestelle
auf eine sehr elegant gekleidete Frau traf.
Wohin die Linie 245 gehe, wollte er von der
Frau im oberbayerische Singsang wissen.
Sie blickte ihn fragend an, er wiederholte.
Sie sagte etwas, das der Dialektor aus
irgendwelchen Gründen im französischen
Sprachraum verortete. Als er sie auf Englisch
fragte, woher sie denn stamme, erwiderte sie
knapp: „Von do“.

Die Freundin des Dialektors lächelte breit.
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Unser Redakteur ist froh, aus dem Urlaub
zurück zu sein. Sein Alter Ego ehrlich gesagt
auch. Gebadet hat er im Tegernsee dann doch noch.
a.scheuerer@infranken.de

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