Andrea Lumina

Redaktionsdienst, Frankfurt/Fulda

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Wenn Gerichte ehrlich zweifeln - Gespräch mit Prof. Köhnken

Wenn ein Gerichte über Taten urteilen, heißt das nicht, dass eine Gesellschaft dieses Urteil annimmt. Günter Köhnken hat als Gutachter viele Kriminalprozesse begleitet, auch den Kachelmann-Prozess in Mannheim. Er war einer von zwei Gutachtern, der ihm seine Unschuld attestierte.

Professor Köhnken, wann kommen Sie ins Spiel ? Wenn ein Fall sehr komplex ist, sind Gutachter wichtig, um die Lage neutral zu beurteilen.


Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor? Man schaut sich die empirische Befundlage an. Dazu gehören alle Untersuchungen, die bisher gemacht worden sind. Alle Faktoren und Umstände werden in Betracht gezogen. Dann schauen wir, wie die tatsächlichen Umstände in diesem konkreten Fall aussahen und setzen alles miteinander in Beziehung.


Das hört sich nach Gutdünken an. Ganz sicher nicht! Es gibt diagnostische Instrumente wie Fragebögen, Tests und Methoden zur Analyse der Aussagen. Sehr komplexe Untersuchungen werden angestellt. Und wir arbeiten mit wissenschaftlichen Methoden, um herausfinden, ob eine Aussage korrekt ist oder nicht. Sie nur in wahr oder gelogen zu kategorisieren, ist eine irreführende Reduzierung auf zwei sehr kurz gedachte Alternativen.


Welche Methoden gibt es denn? Insgesamt gibt es vier große mit vielen kleinen Unterbereichen. Wir untersuchen die absichtliche Falschaussage und die unbeabsichtigten Irrtümer. Dann schauen wir uns die Aussagefähigkeit der Aussageperson genau an. Ob nämlich das, was vom Gedächtnis einer Aussageperson kommt, original wahrgenommen wurde oder ob es fantasiert, geträumt oder eine Halluzination oder ob es etwas ist, das ihr andere eingeredet haben.


Was ist mit den Scheinerinnerungen? Da sprechen Sie einen ebenfalls wichtigen Bereich an, der interessanterweise erst seit rund 20 Jahren in der Aussagepsychologie eine Rolle spielt. Da geht es zum Beispiel um Suggestionen. Jemand ist subjektiv davon überzeugt, sich an etwas zu erinnern, was aber nie stattgefunden hat. Das kann durch suggestive Beeinflussung von Dritten entstanden sein. Manchmal werden in bestimmten Therapien den Patienten Mutmaßungen über die Ursachen ihrer Probleme kommuniziert, die sie möglicherweise übernehmen und in ihr Gedächtnis integrieren.


Und eine Scheinerinnerung entsteht … 
… und das Übel nimmt seinen Lauf. Die entwickeln sich über Jahre hinweg, haben aber überhaupt keine Grundlage und sind nie geschehen.


Wie kommen sie dem auf die Schliche? Methodisch muss die Entstehung einer Aussage rekonstruiert werden. Wann ist zum ersten Mal aus welchem Anlass wem gegenüber was gesagt worden? So wird untersucht, ob sich das Erinnerte tatsächlich zugetragen hat oder ob es das Resultat von suggestiven Beeinflussungen ist.


Wie finden Sie denn die unbeabsichtigten Irrtümer heraus, die gehören ja auch zu ihren Untersuchungsgegenständen? Wir setzen die Umstände der Wahrnehmung und Speicherung im Gedächtnis in Beziehung mit den inzwischen recht umfangreichen Befunden aus der empirischen Forschung. So kann man Risikofaktoren identifizieren, die die Zuverlässigkeit einer Aussage positiv oder negativ beeinflussen können.


Welche Bedingungen fließen mit ein? Sehr sehr viele. War es zum Beispiel hell? Handelt es sich um etwas, das sich ganz schnell abgespielt hat? War das Ereignis mit Angst und Stress verbunden? Wie aufmerksam war der Betroffene in der Situation?


Profitieren Sie vom Intellektualitätsgefälle der Täter zu Ihnen als Gutachter? Das ist in der Tat ein Problem. Ich habe neulich gerade noch mal im Gericht gesagt, als diese Frage auch aufkam, dass die einfachsten Begutachtungsfälle diejenigen von sieben bis neuen jährigen Kindern mit leichten Intelligenzdefiziten sind.


Weil die sich nichts ausdenken können? Genau. Da kann man relativ leicht sagen, dass die sich das nicht ausdenken können, weil sie den Erfahrungshorizont noch gar nicht haben. Je besser die kognitiven und verbalen Fähigkeiten sowie die Gedächtnisfähigkeiten werden, desto schwieriger ist die Begutachtung. Also wir haben mit Erwachsenen – jedenfalls mit einigermaßen intelligenten und verbal eloquenten Erwachsenen – viel größere Schwierigkeiten als mit Kindern.


Wo sehen Sie den Mehrwert Ihrer Arbeit für die Gesellschaft? Wenn man bedenkt, dass es für Gerichte in manchen komplizierten Fällen sehr schwierig ist zu entscheiden, ob eine Aussage korrekt ist, macht so ein Gutachten Sinn. Dass nicht der Täter in einem Fehlurteil laufen gelassen und ein Unschuldiger verurteilt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Tat ist es für Gerichte manchmal schwierig, alle besonderen Umstände wie ich sie oben skizziert habe, zu berücksichtigen. Dann sind Gutachter sehr hilfreich.


Wie im Kachelmann-Prozess? So ist es. Hier hatte die erste Gutachterin schon darauf hingewiesen, dass die Beschuldigungen zweifelhaft sind. Ich konnte das bestätigen.


Was hat Ihre Arbeit denn mit Ehrlichkeit zu tun? Nichts. Unsere Aufgabe ist es, zu begutachten, ob eine Aussage auf eigenen Wahrnehmungen basiert. Das hat zunächst nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Eine Aussage kann subjektiv wahr sein, aber trotzdem nicht objektiv korrekt. Es ist letztlich Aufgabe der Gerichte, dies zu beurteilen.