1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Zeugen abgeschoben

PFORZHEIM Insassen des Abschiebegefängnisses berichten von fehlender medizinischer Versorgung – Eine Petition fordert die Errichtung einer Beschwerdestelle


Insgesamt 3104 Todesfälle gab es im Zeitraum von 1998 bis 2018 in deutschen Gefängnissen. In 1467 Fällen lautete die Todesursache Suizid, 53 mal war es ein Unfall. Der Rest? Unbekannt. Jean Icon (Name von der Redaktion geändert) ist nicht tot. Er sitzt im Abschiebegefängnis Pforzheim und leidet an einem sogenannten stumpfen Bauchtrauma durch äußere Gewalteinwirkung.

Am 15. Januar sollte er vom Stuttgarter Flughafen aus nach Kamerun abgeschoben werden. „Ich habe gesagt, dass ich nicht fliegen möchte“, erzählt er der Heilbronner Stimme am Telefon. Daraufhin sei er von den Polizeibeamten auf den Boden gedrückt und in Rücken und Bauch getreten worden. Der Pilot habe gefragt: „Warum schlagen sie den Mann?“, und sich geweigert, ihn mitzunehmen.

Schmerzmittel als einzige medizinische Behandlung

Drei Tage lang habe der 29-Jährige nicht laufen können, keinen Appetit mehr gehabt und die Toilette nur unter Schmerzen nutzen können. Die einzige medizinische Behandlung, die er in der Pforzheimer Abschiebeeinrichtung bekam, sei ein Schmerzmittel gewesen. „Ich wollte in ein Krankenhaus gebracht werden“, berichtet Icon. Erst zwei Wochen später war es soweit. Am 28. Januar wurde er von einem Arzt des Helios-Klinikums in Pforzheim untersucht.

„Eine Verletzung der inneren Organe wurde dabei zum Glück nicht festgestellt“, erklärt sein Anwalt Peter Fahlbusch. Der eigentliche Skandal sei, dass das Justizpersonal nicht unmittelbar einen Arzt eingeschalten habe. „Das muss ich tun, wenn ein Mensch so etwas erlebt“, sagt Fahlbusch. Dass dies erst zwei Wochen nach den Vorfällen am Stuttgarter Flughafen geschah, sei ein Unding: „Besonders mit Blick auf einen möglichen Beweismittelverlust.“ Die ärztliche Behandlung sei in diesem Fall eindeutig zu spät erfolgt. Weitere ärztliche Atteste lägen ihm nicht vor.

Die Kritik an der Pforzheimer Abschiebeeinrichtung reißt nicht ab. Im Mai kam es dort laut dem Antirassistischen Netzwerk Baden-Württemberg bereits zu Übergriffen durch das Sicherheitspersonal. Betroffene berichteten davon, gefesselt und mindestens drei Tage in ihre Zellen eingesperrt worden zu sein. Auch von Einzelhaft in einem sogenannten „Bunker“ ist die Rede. Persönliche Hygiene und der Handykontakt zu einem Anwalt seien verboten worden.

Alle Betroffenen wurden mittlerweile abgeschoben. Derzeit sitze eine weitere Person seit zwei Wochen in Isolationshaft. „Ich habe gefragt warum, aber niemand wollte mir sagen weshalb“, berichtet Icon.

Petition fordert unabhängige Beratung

„Intransparent und der öffentlichen Kontrolle entzogen“ nennt der Flüchtlingsrat des Landes die Situation in der Einrichtung. Der Verein unterstützt eine im Mai beim Landtag eingereichte Petition. Initiiert wurde sie vom Antirassistischen

Netzwerk Baden-Württemberg. „Wir wollen die politisch Verantwortlichen auf den mangelnden Schutz der Inhaftierten und die mangelnde Kontrolle der Aufsehenden aufmerksam machen“, erklärt Sean McGinley vom Flüchtlingsrat.

Die Petition fordert daher eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle sowie ein unabhängiges und offenes Beratungsangebot für die inhaftierten Geflüchteten. „Es ist ganz dringend geboten, dass eine unabhängige Beschwerdestelle für die Insassen eingerichtet wird“, fordert Sean McGinley.

Die rechtliche Situation von Menschen in Abschiebegefängnissen ist in Baden-Württemberg besonders prekär: „Anders als in Hessen gibt es hier keine Beiräte und kein stehendes Beratungsangebot“, erklärt Beate Deckwart-Boller. Sie leitet die Verfahrens- und Sozialberatung für Geflüchtete der Diakonie. Die bietet im Abschiebegefängnis Pforzheim mit anderen Trägern eine unabhängige Verfahrensberatung an. Ziel ist die Unterstützung von Geflüchteten zum Schutz ihrer Grundrechte.

In Pforzheim ist die Diakonie mit einer Seelsorgerin vor Ort. „Allerdings kann diese nur Eins-zu-Eins- Gespräche unter den Bedingungen einer normalen Besuchsregelung führen“, berichtet Deckwart-Boller. Das bringt viele Nachteile mit sich. Die Sozialarbeiterin kann nur auf Anfrage von Einzelpersonen und zu Einzelgesprächen das Gebäude betreten. Dazu müssen die Inhaftierten die Telefonnummer der Seelsorgerin kennen und sie aktiv anfragen. Das sei schwierig, da sie keine internetfähigen

Handys besitzen dürfen. Zudem ist Deckwart Boller nur zwei Tage die Woche vor Ort. „Im Abschieberecht muss aber alles schnell gehen.“ Die Haftgründe sollen im Idealfall individuell durch ein Gericht geprüft werden. „Da müssen wir schnell reagieren.“, so Deckwart-Boll.

Abschiebungen oft rechtswidrig

Eine amtliche Statistik über die Rechtmäßigkeit verhängter Abschiebehaft gibt es nicht. Rechtsanwalt Fahlbusch dokumentiert alle 1927 von ihm seit 2001 geführten Fälle. „Bei ungefähr der Hälfte war die Abschiebehaft rechtswidrig.“ Jeder Betroffene saß im Durchschnitt 26 Tage zu Unrecht in Haft. Das sind mit 24 611 Hafttagen 67 Jahre. „Ein erschütternder Befund“, sagt Fahlbusch. Er fordert, den Inhaftierten ab dem ersten Hafttag einen Pflichtverteidiger zu stellen. „Wie das auch in der Untersuchungshaft der Fall ist.“

Über die Vorfälle im Mai sagt Carsten Dehner, Pressesprecher des Innenministeriums: „Wir gehen jedem Einzelfall nach. Bislang haben sich alle erhobenen Vorwürfe in Luft aufgelöst.“ Die medizinische Versorgung in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim erfolge durch eigenes Sanitätspersonal und Vertragsärzte. „In Ausnahmefällen erfolgen Arztvorstellungen bei externen Fachärzten oder Krankenhäusern.“ Auch eine Isolationshaft sei zulässig, „wenn die Gefahr einer Befreiung oder einer erheblichen Störung der

Sicherheit oder Ordnung in der Einrichtung nicht anders abgewendet werden kann“. Ein Arzt sei baldmöglichst zu beteiligen. Jede Isolationshaft von mehr als 24 Stunden sei dem Innenministerium unverzüglich zu melden. Zum laufenden Petitionsverfahren könne er keine Auskunft geben, sagt Dehner.

Als Berichterstatterin zuständig für die Petition ist die Grünen-Abgeordnete Stefanie Seemann. Im August hat sie der Petitionsausschuss mit der Aufgabe betraut. Bei der Lektüre der damals vom Innenministerium abgegebenen Stellungnahme seien weitere Fragen aufgetaucht. Insbesondere zur medizinischen Versorgung und den konkreten Geschehnissen im Mai. „Ich warte nun auf die ergänzende Stellungnahme durch das Innenministerium", so Seemann. Erst dann kann die Petition in der nächsten Ausschusssitzung am 5. März behandelt werden.

Sehnsucht nach einer Zukunft

Die Zeit indes läuft. Wie Jean Icons Rechtsanwalt Peter Fahlbusch unserer Zeitung mitteilt, soll sein Mandant weiterhin abgeschoben werden: „Diesmal mit einem Charter-Flugzeug, nur begleitet von den Beamten und den Piloten.“ Die Öffentlichkeit sei so noch mehr von den Vorgängen ausgeschlossen. Es gibt dann auch einen Zeugen weniger, um die Vorgänge in der Abschiebeeinrichtung in Pforzheim aufzuklären. Fahlbusch hat gegen den Beschluss eine Beschwerde eingereicht: „Laut einem Schreiben hat die ehemalige Anwältin meines Mandanten ein Asylfolgeverfahren beantragt.“ Ein Gericht kläre gerade, ob dieses eingegangen ist. „Wenn das der Fall ist, ist die angesetzte Abschiebung rechtswidrig“, sagt Peter Fahlbusch. Das Landgericht hat diese Beschwerde allerdings abgelehnt.

Jean Icon versteht nicht, weshalb sein Asylantrag abgelehnt wurde. Seine Frau lebt in Berlin. „Ich spreche Deutsch nun auf Niveau B1.“ Drei Jahre hat er in Bruchsal beim Internationalen Bund einen Sprachkurs absolviert. „Ich möchte den Menschen helfen und eine Ausbildung zum Altenpfleger machen.“