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Umarm mich!

Manchmal rutscht Maria-Cristina Hallwachs beim Sex der Blasenkatheter raus. "Das kann jede Stimmung killen", sagt sie und grinst, "aber dann ist es nun mal so." Hallwachs kann darüber lachen. Und sie braucht einen Partner, der das auch kann. Mit Holger war das so.

Vor dem Sommer 1993 war das anders. Sie war 18, hatte das Abitur gerade hinter und das Erwachsenenleben vor sich. Tanzte zu Musik von Depeche Mode und war verliebt in ihren Freund Fabrice. Dann sprang Hallwachs in Griechenland in einen Hotelpool und brach sich die Halswirbelsäule. Ein Hubschrauber brachte sie ins Querschnittzentrum Tübingen. Tagelang ging es ums Überleben. Nach dem Aufwachen musste sie sich entscheiden. "Sie werden Ihr Leben im Liegen verbringen", sagten die Ärzte, erinnert sich Hallwachs. "Wollen Sie so weiterleben?"

Fast 26 Jahre ist das her. Heute lebt Hallwachs in Stuttgart, in einer barrierefreien Erdgeschosswohnung im Haus ihrer Eltern. Im Liegen muss sie ihr Leben nicht verbringen. Sie nutzt einen elektrischen Rollstuhl, den sie mit ihrem Kinn per Joystick steuert, und 24 Stunden am Tag ist eine Pflegekraft bei ihr. Sie ist schon gemeinsam mit einem Pfleger zum Romanistikstudium nach Tübingen gependelt, reiste nach Österreich, Frankreich und Spanien, geht shoppen und ins Theater. Ihren Computer bedient sie mit einer Mundmaus. Von ihrem damaligen Freund Fabrice hat sie sich noch im Krankenhaus getrennt. Zu groß die Überforderung, zu schmerzhaft das Gefühl, er bleibe aus Mitleid bei ihr. Wenn man auf ihrem Sofa sitzt, vergisst man leicht, dass die großzügige Gastgeberin nie allein ist, nie allein sein darf.

Im Nebenraum sitzt eine Pflegerin, in einer halben Stunde wird sie Hallwachs den Speichel absaugen und ihr ein Glas Wasser mit Strohhalm hinstellen. Ein Team aus insgesamt zehn Pflegekräften betreut sie in zwei Schichten, 7 bis 19 Uhr, 19 bis 7 Uhr. Die Krankenkasse kommt für die Kosten der Grundpflege auf; Hallwachs zahlt etwas zu den Gehältern des privaten Pflegedienstes dazu, wo sie sich die Pflegekräfte aussuchen kann. Eine Pflegerin wäscht und schminkt sie, kleidet sie an und reicht ihr das Essen. Ohne Lätzchen, darauf besteht Hallwachs. Dann geht der Pullover eben in die Wäsche.   

Mit Pflegerin Timi ist sie befreundet. Sie lackiert Hallwachs auch die Fingernägel, am liebsten in Rot. Wenn Timi einen schlechten Tag hat, muntert Hallwachs sie auf. Sie waren gemeinsam in Paris und in der Schweiz, "Maria-Cristina und ich sind ständig unterwegs".


Ob sie wieder Freude am Sex haben könnte, war lange kein Thema

Mehrmals im Jahr erzählt Hallwachs in Vorträgen, wie sie sich ihr Leben mit Intensivpflege eingerichtet hat. An einer Heilerziehungsschule, vor angehenden Medizinern und an Schulen. Und sie berät ehrenamtlich Menschen, die wie sie beatmet werden. Hallwachs beschäftigt sich permanent mit ihrer Behinderung, vorbei führt daran ohnehin kein Weg: Tagsüber trägt sie einen Zwerchfellstimulator. Alle vier Sekunden sendet der einen Impuls, das Zwerchfell zieht sich zusammen und saugt Luft in ihre Lunge, manchmal mitten im Satz. Nachts versorgt eine Beatmungsmaschine sie, deren Motor vor dem Schlafzimmer steht, weil er so laut ist.

Ob sie als Querschnittgelähmte Freude am Sex haben könnte, war für sie nach dem Unfall kein Thema. Sie war dabei, ihr Leben neu zu sortieren. Dann lernte sie den Mann kennen, der in diesem Text Holger heißt.


"Ich war sehr dankbar, dass er sich auskannte"

Holger arbeitete bei einem Hersteller für medizinische Hilfsmittel und wurde zu einem engen Vertrauten. Er hat ihren Zwerchfellstimulator eingestellt, umgestellt, gewartet. Drei Jahre und viele Hausbesuche später küsste er sie. Hallwachs fand das gut, sie hätte sich nicht getraut. Und selbst wenn: Wie küsst man jemanden spontan, wenn man ihn dafür bitten muss, näherzukommen? Hallwachs war verliebt, aber überfordert.

Fast 60 Prozent der menschlichen Kommunikation sind Körpersprache. Weil ihr dafür nur Kopf und Hals bleiben, muss Hallwachs ständig reden. Erklären, was sie gerade braucht, will oder stört. Das ist oft mühsam, am Anfang frustrierte es sie.

Klar gab es Krisen. Man müsse diese Krisen annehmen, gegen sie kämpfen, den Kampf anderen mitteilen, sagt Hallwachs. Selbst wenn die ihn nicht nachempfinden könnten – "es bringt nichts, Probleme in sich reinzufressen. Das sagt meine Mutter immer, und sie hat recht."

"Ich mag deine Hüften so sehr"

Die Uhlandshöhe in Stuttgart, ein kleiner Fleck Grün über den Häusern der Stadt. Holger lenkt den Sprinter, Hallwachs schaut aus dem Fenster. Er hält, steigt aus, breitet eine Decke auf der Wiese aus, lupft Hallwachs darauf, legt sich daneben. Sie blicken in den Himmel, minutenlang: eine von Hallwachs' liebsten Erinnerungen.


Es waren kleine Gesten, Bemerkungen in der Zweisamkeit, mit denen Holger Hallwachs zeigte, dass sie schön ist. "Ich mag deine Hüften so sehr", sagte er mal, sie verstand das nicht. Die hängen runter, sehen so gut oder schlecht aus, wie man sie drapiert, fand sie. "Da merkte ich, dass ich mich gedanklich von meinem Körper entfernt hatte." Unter Querschnittgelähmten, die weder Arme noch Beine bewegen können, in Fachsprache: Tetraplegikern, spreche man scherzhaft vom "Tetrabauch" – da die Muskeln nicht beansprucht werden, ist die Bauchdecke schlaff. Mit gesunden Frauen dürfe sie sich nicht vergleichen, sagt sie, das mache nur unglücklich.

Mit Holger war es auch deshalb besonders, weil sie mit ihm allein sein konnte. Er hatte früher als Pfleger gearbeitet, konnte absaugen, wenn der Schleim die Atemwege erreichte, war stark genug, sie zu tragen und zärtlich genug, sie anzukleiden. 200 Kilometer trennten sie, Holger kam einmal die Woche. Dann gingen sie ins Kino, ins Theater, fuhren ins Grüne. Pflege wurde zum Nebenthema. Vor ihrem ersten Mal sprachen sie offen. "Ich war sehr dankbar, dass er sich auskannte, wusste, welche Fragen in mir kreisten", sagt Hallwachs.

Täglich wird sie berührt, auch wenn ihr nicht danach ist

Denn spontan ist Sex mit einer Querschnittlähmung nicht. Weil ihr die Muskeln fehlen, nimmt Hallwachs' Körper "quasi Raumtemperatur an", kühlt schnell aus, versteift. Vorheizen ist gut, eine zusätzliche Decke besser. Damit der Blasenkatheter sich nicht löst, leert sie vorher die Blase, lässt abführen. Trotzdem kann es passieren, dass ein Reiz auf den Blasenschließmuskel trifft – und dann ist der Partner nass. Oder es macht flupp und der Beatmungsschlauch löst sich. Holger ließ sich davon nicht verunsichern. Wenn Bewegung im Körper ist, sammelt sich Schleim in der Lunge an. Der muss abgesaugt werden. Holger tat das auch mal nackt, machte dabei Scherze. Wenn Hallwachs davon erzählt, bleibt sie erst ganz ernst, dann kichert sie. 

Körperliche Nähe bleibt für Hallwachs eine Überwindung. Sie führt zwar das wohl unabhängigste Leben, das ein von Pflege abhängiger Mensch leben kann. Doch täglich wird sie berührt, beim Waschen und Anziehen. Selbst wenn ihr eigentlich nicht danach ist, es geht ja nicht anders.

Auch beim Sex fühlt sie sich manchmal hilflos. Einmal hat sie die Passivität überwältigt. "Ich hab das Gefühl, du könntest dich auch einfach selbst befriedigen", sagte sie zu Holger, "ich kann ja sowieso kaum was machen." Sie weiß, dass Holger ihre Nähe trotz Handicap schätzte. Und doch machte sie diese Verletzlichkeit traurig. Nach zwei Jahren Fernbeziehung trennten sie sich.


"Die Bedürfnisse von behinderten Frauen werden kleingeredet"

In der Beziehungspause lernte sie Frank kennen, auf einer Datingplattform für Menschen mit Behinderung. Dass körperbehinderte Menschen Sex haben, mag ein Tabu sein, eine Ausnahme ist es nicht. Frank ist Schweizer, noch eine Fernbeziehung. Dass sie querschnittgelähmt ist, stand auf ihrem Profil. Einige krude Anfragen habe sie in ihrem Postfach gefunden, sagt Hallwachs. Ob sie auch amputiert sei, fragte einer, offenbar auf der Suche nach einem Objekt für seinen Fetisch. Dass Frank selbst ein Handicap hat, hatte er erst verschwiegen – nach einer Blasenentzündung ist er inkontinent. Hallwachs reagierte gelassen: Warum sollte ausgerechnet sie damit ein Problem haben?

Nach zwei Jahren trennte Frank sich von ihr. Sie fiel in ein Loch, suchte Trost bei ihren Eltern. "Meine Mutter war sauer, sie unterstellte ihm, dass er nur ausprobieren wollte, wie das so ist mit einer Frau mit Behinderung." Hallwachs selbst sagt, sie sei dankbar für die Erfahrung mit einem Partner, der vorher nichts mit Pflege zu tun hatte. Ihre Eltern seien ihre größte Stütze, ihre Beziehung ein Vorbild, ganz klar. Seit mehr als 50 Jahren sind sie zusammen. 

Eine Fernbeziehung sei für sie ein gutes Modell, sagt Hallwachs, auch wenn es manchmal einsam mache. Eine Beziehung mit einer höheren Frequenz, uff, sie weiß nicht, ob das in ihren Alltag passt. Neben der Krankheit sind da viele Freunde, Termine und auch Reisen. Vielleicht fand Hallwachs sich aber auch deshalb so gut in ihren Fernbeziehungen zurecht, weil der räumliche Abstand auch innere Distanz schaffte.

Die Querschnittgelähmte als Geliebte: viele könnten sich das nicht vorstellen, sagt Hallwachs. Dabei habe sich an ihren Bedürfnissen überhaupt nichts geändert. Sie hat Lust auf die Wärme einer Umarmung, die Zärtlichkeit, bei der Hand genommen zu werden, das Knistern vor einem Kuss. Sie kneift ihre Augen zusammen. "Die Bedürfnisse von behinderten Frauen werden so oft kleingeredet. Als könnte man die wegdenken!" Nur woher den Mut nehmen, wenn niemand darüber spricht? Im Krankenhaus ging es um die Zukunft ihres Körpers, ihrer Existenz.

Im Krankenhaus sprach niemand über Sex

Über Sex sprachen Ärzte und Pfleger nicht mit ihr. Übel nehme sie das keinem, doch für sie ist es ein Symptom des Tabus, das "alle Behinderten beschäftigt". Männer hört sie anders darüber reden als Frauen. Technischer, körperbezogener. "Kriegst du ihn noch hoch? Welche Hilfsmittel kann ich nehmen, um Sex zu haben?" Frauen gehe es – "Klischee, aber wahr" – eher um die emotionalen Fragen dahinter. Was macht es aus Beziehungen, wenn man in die Passivität gezwungen ist? Wie nähere ich mich meinem Partner, obwohl ich mich fast nicht bewegen kann?

Bei querschnittgelähmten Männern ist oft die Potenz eingeschränkt, viele Frauen produzieren weniger Vaginalsekret, auch wenn sie erregt sind. Der Orgasmus ist für Hallwachs eine Erinnerung aus Jugendtagen, nie mehr erreicht, aber den Druck will sie sich nun wirklich nicht mehr machen. Wenn sie versuche, genauso zu empfinden wie vorher, blockiere ihr Körper ganz schnell. Nur den Moment auszukosten, das sei das Geheimnis.

Wo sie heute Lust empfindet, hat sie mit Frank und Holger erkundet. Am Nacken. Im Gesicht. Aber auch an den Armen, an den Brüsten. Nicht wie früher – die Verbindung der Nerven zum Gehirn besteht nicht mehr. Man muss sie schon fester anfassen. Dringt ein Mann in sie ein, spürt sie nur zu Beginn etwas, erzählt sie. "Ich glaube, es ist die erhöhte Körpertemperatur, der erhöhte Puls, den ich wahrnehme. Und viel ist Kopfsache." Ihr Mantra: Entspanne dich. Genieße, was du spürst. Alles ist okay.

Aufpassen muss Hallwachs trotzdem. Sonst hängen ihre Beine wieder wochenlang in einer Bewegungsschiene, wie damals, als Frank ihr versehentlich den Oberschenkel gebrochen hat. "Oft spüre ich Schmerzen nicht, da versagt das natürliche Frühwarnsystem." Andersherum plagen sie oft Rückenschmerzen, wo keine sein sollten. "Das kann eine Verspannung sein, ein überfüllter Darm oder eine Entzündung." Ihr Körper macht Übersetzungsfehler. Doch er spricht.


"Ich muss alles besprechen, mit allen"

Am Fenster baumelt ein Engelspaar aus Ton, Maria-Cristina und Holger. Nach der Trennung von Frank kamen sie wieder zusammen. Zehn Jahre haben sie als Paar verbracht. 2017 starb Holger an Krebs. Neben ihrem höhenverstellbaren Bett steht ein Schrein: links ein Rosenkranz, rechts Engelsfiguren, in der Mitte Fotos von früher, hinten ihre Ohrstecker, paarweise auf einer Halterung. Seit Holgers Tod lebt sie allein.

Natürlich habe sie sich in den Jahren nach dem Unfall verändert. Lasse nicht mehr so viel und viele an sich heran. Rein körperlich kommt sie ja nicht mehr einfach an Menschen heran. Sie sei rationaler, auch härter als früher. Der äußeren Distanz folgt die Innere. "Wenn eine liebe Freundin mir ihr Leid klagt und ich sie umarmen will, muss ich sie bitten, mich zu umarmen. Natürlich ist das nicht dasselbe", erzählt sie.

Früher habe sie das frustriert. Heute versuche sie, sich auf die Vorteile zu konzentrieren. "Ich muss alles besprechen, mit allen. Wenn ich umarmt werden möchte, sage ich das. Wenn ich mich hinlegen möchte, etwas trinken oder mich an meinen Partner herankuscheln." Der Unfall als Ermächtigung, als Ruck, alles anzusprechen, was zwischen ihr und anderen Menschen steht.  

Aber auch als Mauer, die sich an manchen Tagen vor ihr aufbaut. Ihre Pfleger werden dafür bezahlt, sich um sie zu kümmern, das gehe schon in Ordnung. Auch die Hilfe ihrer Eltern kann sie gut annehmen. Doch vor einem Partner wäre sie gerne stärker. "Ich muss ständig um etwas bitten, das nervt." Manchmal, wenn sie durstig war und Holger bei ihr, hat Hallwachs mit dem Trinken gewartet. Weil sie ihn nicht schon wieder um einen Gefallen bitten wollte.


Autorin: Ana-Marija Bilandzija








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