Almut Wenge

Journalistin, Texterin, Übersetzerin für Leichte Sprache und Einfache Sprache, Hamburg

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Amazon Prime, Netflix und Co.: Wie behält man den Überblick, was Kinder beim Film- und Serienstreaming sehen?

Text für Süddeutsche Zeitung Familie, Heft 1/2018



Erst neulich wieder: Der Sohn sitzt vor Netflix, im voreingestellten „Kids“-Portal, da müsste ja alles kinderkompatibel sein. Irgendwann erklingt im Nebenzimmer die Titelmelodie von „Star Wars“ – er hat sich einen Film ausgesucht, der im Kino frei ab zwölf Jahren ist. Mein Sohn ist elf Jahre alt – der „Star Wars“-Film sei ihm gegönnt, er kennt ihn sowieso schon. Trotzdem fragt man sich: Auf welche Inhalte für „Kids“ haben Kinder noch Zugriff?

Die aufwendigen Eigenproduktionen von Netflix und Amazon Prime, die Vielfalt der Kanäle auf Youtube, dazu noch die klassischen Sender: Dank unterschiedlichster Anbieter ist Fernsehen heute eine riesige Fundgrube, für Erwachsene und für Kinder. Das Fernsehen, wie es früher war, hatte demgegenüber eigentlich nur einen einzigen Vorteil: Es machte Eltern das Leben leicht. Die Sendezeiten garantierten den Jugendschutz. Noch heute ist es bei öffentlich-rechtlichen wie bei privaten Sendern so: Ein Film ab zwölf Jahren darf nicht vor 20 Uhr gesendet werden, einer ab 16 nicht vor 22 Uhr und einer ab 18 sogar erst ab 23 Uhr. Eltern wussten also: Wenn Kinder tagsüber vor dem Fernseher saßen, ging es auf dem Bildschirm halbwegs gesittet zu. Verglichen mit dieser ordentlichen Fernsehwelt wirkt die neue Streamingwelt so unübersichtlich wie ein Dschungel. Allein für Online gibt es hierzulande vier freiwillige Selbstkontrollen. Und alle werden nur auf Anfrage tätig, der Anbieter muss sie beauftragen. Amazon legt sämtliche Eigenproduktionen der FSK vor. Sky und Maxdome sind Mitglied in der FSM, der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter. Netflix ist jüngst der FSM beigetreten. Bislang bewertete das Streamingportal seine Eigenproduktionen – die „Netflix Originals“ – selbst. Was aber nicht garantierte, dass eine „Netflix-Zwölf“ einer „FSK-Zwölf“ entsprach.

Gesetze sind nicht das Problem, an denen mangelt es niciht – auch Online-Anbieter müssen sich an die Jugend- und Jugendmedienschutzgesetze halten. Doch bei einem ständig wachsenden Angebot ist die Kontrolle schwierig, ganz abgesehen von der Durchsetzung, wenn eine Firma ihren Sitz im Ausland hat. Noch tun sich viele Lücken auf. Inhalte für Erwachsene müssen zugangsbeschränkt sein. Die meisten Anbieter regeln das über eine PIN-Sperre für Filma ab 18 Jahren. Aber gesetzlich muss es auch für Filme ab 16 eine sogenannte Verbreitungsbeschränkung, also eine Zugangssperre, geben. Bei Netflix sind Filme oder Serien ab 16 frei abrufbar. Und „Fifty Shades of Grey“, ein Film mit FSK 16, kann man zum Beispiel bei Amazon und Maxdome mit der normalen Nutzer-PIN ausleihen und abspielen.

Netflix hat sich bereits ein gutes Stück bewegt. Noch vor wenigen Monaten waren die Eigenproduktionen des Streamingdienstes schlecht oder gar nicht gekennzeichnet, inzwischen hat das Unternehmen seine internen Altersfreigaben öffentlich gemacht, und jeder eingekaufte Film sollte eine Kennzeichnung haben. Für eingekaufte Filme gilt ohnehin: Gibt es bereits eine FSK-Bewertung – und die hat fast jeder Film, der im Kino oder auf DVD war –, muss der Anbieter auf sie hinweisen. Bei „Star Wars“ hat das nicht funktioniert. Netflix sagt, wenn man den Filter im „Kids“-Modus zusätzlich auf „Nur für kleine Kinder“ einstellt, tauche der Film nicht mehr auf. Nach dieser Definition sind Zehn- und Elfjährige noch kleine Kinder. Mein elfjähriger Sohn sieht das sicher anders.

Man muss den Anbietern zugutehalten, dass der Dschungel auch für sie undurchsichtig ist: Je nach Land gibt es unterschiedliche Sichtweisen, was Kindern zugemutet werden kann. In Deutschland will man sie vor Gewalt bewahren, britische Jugendschützer zählen vor allem Schimpfwörter, und in den USA ist nackte Haut tabu. Streaminganbieter stehen also vor einer globalen Herausforderung, wenn sie ihre Filme und Serien beurteilen. Das ist einer der Gründe, warum Freigaben nach einheitlichen Kriterien fehlen. Noch fehlen. Denn tatsächlich haben die großen Anbieter das Problem erkannt. Sie wissen selbst, dass transparente Altersangaben helfen, Eltern als Kunden zu gewinnen und zu halten. Cornelia Holsten, die Vorsitzende der unabhängigen Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), bestätigt das: „Sich an Jugendschutz zu halten, lohnt sich für Anbieter spätestens, sobald es ökonomisch attraktiv ist.“ Martin Drechsler, Geschäftsführer der FSM, erklärt die Sache so: „Netflix ist es egal, ob ein Film ab zwölf oder ab 16 freigegeben ist. Die Kunden sollen zufrieden sein und sich auf dem Portal wohlfühlen.“

Vor Netflix und Amazon war nicht alles besser. Auch das von der Filmwirtschaft finanzierte FSK-System garantierte ja keinen allumfassenden Jugendschutz. Die Altersfreigaben sollten und sollen nur einen Mindestschutz bieten. Für die FSK arbeiten 204 ehrenamtliche Prüfer, die in Fünfer-Ausschüssen per Abstimmung die Freigabe erteilen. Mit der zentralen Vorgabe, dass Filme und andere Trägermedien, die „geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen“, nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden. Die Freigabe ist aber weder eine pädagogische Empfehlung noch eine ästhetische Bewertung. Und die grobe Einordnung – ab null, sechs, zwölf, 16, 18 Jahren – hat ihre Tücken: Denn es gibt Zehnjährige, die bei „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ Herzrasen kriegen, obwohl der Film ab sechs freigegeben ist. Und der „Tatort“, der ja um 20.15 Uhr läuft, ist damit immer „ab zwölf“, egal wie verstörend einzelne Folgen ausfallen.

Besonders irreführend ist die Freigabe „ab null Jahren“. Viele Eltern schließen daraus, dass man einen Film guten Gewissens den Kleinsten zeigen kann. Doch die allermeisten Dreijährigen sind von Szenen in Kinderfilmen überfordert, auch wenn Winnie Puuh nur von einem Schwarm Bienen gejagt wird. Das große Missverständnis der Altersfreigaben: Man begegnet ihm auch im Kino bei „Paddington, inmitten heulender Kleinkinder. Eine Freigabe ab null bedeutet eben nicht, dass ein Film harmlos ist. Nur, dass die Kinder voraussichtlich keinen bleibenden Schaden davontragen, auch wenn sie dann wochenlang abends das Licht anlassen. Eine durch Altersgrenzen garantierte Sicherheit gab es also nie: Die letzte Verantwortung bleibt bei den Eltern. Und die können einiges tun, um ihre Kinder vor ungeeigneten Inhalten zu schützen. Worauf man achten sollte:

• Die voreingestellten Altersbeschränkungen sind oft zu lax. Aber alle Anbieter geben die Möglichkeit, den Zugang einzuschränken. Bei Amazon etwa lässt sich die Alterssperre pauschal herabsetzen. Auch PIN-Abfrage für einzelne Titel ist möglich. Bei Netflix kann man verschiedene Benutzerprofile einrichten und für jedes Sperren eingeben.
• Die Alterssperren nützen nichts, wenn der Teenager beim Einrichten hilft. Lieber selbst durchklicken. Keine Angst vor der Technik! Im Internet gibt es Anleitungen für jede Plattform.
• Bei mehreren Benutzerprofilen: Kontrollieren, ob das Kind wirklich nur auf dem eigenen Profil unterwegs ist. Auch gern mal den Verlauf überprüfen. Wenn dort zwischen Trickfilmen „The Walking Dead“ erscheint, lief irgendwas schief.
• Eventuell eine Filtersoftware installieren. Das kostenlose Jugendschutzprogramm.de (www.jusprog.de) kann Alterskennzeichen auslesen.
• Infos einholen zum Film: Was passiert da, wie sind die Bewertungen? Nur so lässt sich eine Auswahl treffen, die zum eigenen Kind passt. Im Zweifelsfall die Sendung vorher anschauen, in voller Länge. So machen es die FSK-Gutachter auch. Trickfilme ebenfalls checken, sie sind nicht automatisch kindgerecht.
Auch Apps und Online-Games darf jeder Anbieter selbst beurteilen. Nur Spiele, die auch auf Trägern erhältlich sind, müssen offiziell altersgeprüft sein.

Das Wichtigste: Mit den Kindern über Inhalte reden, Fragen stellen, mitschauen. „Das beste Fernsehen ist: zusammen mit den Kindern gucken“, empfiehlt Cornelia Holsten. „Mit der Vielfalt der Möglichkeiten steigt die Eigenverantwortung der Eltern.“ Mehr als früher ist Fernsehen ein Übungsfeld für Medienkompetenz. Und darin steckt ja auch eine positive Nachricht: Es ist kein passiver Zuschauersport mehr. Es macht Spaß und manchmal Arbeit. Damit nicht alles an den Eltern hängen bleibt, braucht es aber transparente und möglichst einheitliche Altersfreigaben. Dafür verlängern wir dann auch gern unser Abo. Und freuen uns auf die nächste Superserie.