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FAZ.NET-Tatortsicherung: Wie berechenbar ist Pädophilie?

Wie berechenbar ist Pädophilie?

Ricos Eltern sind erschüttert. Ein Tag nach dem Verschwinden ihres 9 Jahre alten Sohnes zieht man seine Leiche aus der Elbe. Jemand hat den Jungen betäubt, missbraucht und in Kauerstellung in eine Sporttasche gepackt, anschließend in den Fluss geworfen. Der Anblick des halbnackten, toten Jungen ist selbst für das erfahrene Team der Kripo Dresden ein Grauen. Emotional fordernd ist das Verschwinden von Rico vor allem für Kommissariatsleiter Schnabel ( Martin Brambach), da es ihn an einen ungelösten Fall aus dem Jahr 2014 erinnert: Bis heute hat man den damals 9 Jahre alten Jakob nicht gefunden.

Spuren gibt es ebenso im Fall Rico kaum - den Täter ausfindig zu machen, scheint vorerst unmöglich. Schließlich stellt ein anonymer Hinweis Ricos Schwimmtrainer Micha Siebert (Niels Bruno Schmidt) unter Verdacht, da er sich in seiner Zeit als Referendar in einen 16 Jahre alten Schüler verliebt hat und daher nicht mehr als Lehrer arbeiten darf. Doch als die Kommissare Sieberts Unschuld feststellen, ist es zu spät: Die Öffentlichkeit hat sich bereits ihr Urteil gemacht; sein Ruf ist zerstört und der Wirbel lenkt vom tatsächlichen Täter ab.

Mit Experten haben wir einige Details aus diesem verwickelten Fall beleuchtet.

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Frage 1: „Von hundert vermissten Kindern ist einem wirklich was passiert, laut Statistik. Der taucht schon wieder auf", meint Oberkommissarin Henni Sieland (Minute 2). Hat sie damit recht?

Antwort von Barbara Hübner (Sprecherin des Bundeskriminalamtes): Frage 2: „Um Zeitpunkt und Ort der Entführung des Jungen näher eingrenzen zu können, sind wir auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Wir haben eine Hotline eingerichtet, Hinweise werden rund um die Uhr entgegengenommen", das gibt der Sprecher der Polizei während der Pressekonferenz am Tag nach dem Auffinden der Leiche bekannt (Minute 20). Ist das Einrichten einer eigenen Hotline üblich?

Die "Vermisstenstelle" des BKA fahndet nach vermissten Personen und identifiziert Leichen von unbekannten Personen. Wenn irgendwo jemand vermisst wird, landet sein Name in der entsprechenden Datei, die das BKA zusammen mit den Vermisstenstellen der Bundesländer führt. In der Datenbank ist viel Bewegung. Wir haben täglich bis zu 300 neue Einträge oder Löschungen. Dort sind auch Personen gespeichert, die schon zum Teil bis zu dreißig Jahre vermisst werden, so lange ihr Schicksal nicht geklärt werden kann. Täglich gibt es 200 bis 300 neue Vermisstenfälle - genauso viele werden jeden Tag erledigt. Erledigt heißt: Die vermisste Person wird gefunden oder identifiziert und die Fahndung wird daher gelöscht. 50 Prozent der Vermissten-Fahndungen erledigen sich innerhalb der ersten Woche, 80 Prozent innerhalb des ersten Monats. Nur drei Prozent der Personen werden länger als ein Jahr vermisst. In Deutschland sind aktuell rund 1900 Kinder als vermisst gemeldet.

Antwort von Marko Laske (Pressesprecher der Polizei Dresden):

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Frage 3: „Es gibt Gründe dafür, dass wir nicht einfach machen dürfen, was möglich ist, Herr Schnabel, das müssten Sie ja am besten wissen. Sie haben ja noch die DDR erlebt", sagt Kommissarin Sieland (Minute 27). Daraufhin Schnabel: „Wir bei der MUK haben uns nie politisch einspannen lassen. Wir haben Kriminalfälle gelöst." Stimmt diese Beschreibung der MUK (Morduntersuchungskommission) in der DDR?

Antwort von Remo Kroll (Mitherausgeber der „Schriftenreihe Polizei" und Mitautor von „Morduntersuchung in der DDR"):

In aller Regel gehen Hinweise aus der Bevölkerung bei der Notrufzentrale ein, die rund um die Uhr besetzt ist. In einem besonders schwerwiegenden Fall, in dessen Veröffentlichung mit zahlreichen Hinweise zu rechnen ist, ist eine Hotline durchaus angezeigt.

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Die Aussage des Kommissariatsleiters Schnabel deckt sich mit meinen Erkenntnissen zur Arbeitsweise der Morduntersuchungskommissionen in der DDR. Hier waren vor allem die fachlichen Leistungen der Kriminalisten relevant. Es ging darum, Tötungsdelikte als solche aufzudecken, zu untersuchen und letztlich aufzuklären. Politische Karrieristen ohne fachlichen Hintergrund wären in der MUK schnell gescheitert. Und insgesamt betrachtet ist es doch so, dass die Aufklärung von Tötungsdelikten unabhängig vom jeweiligen politischen System eine hohe Priorität genießt. Man musste dahingehend nichts politisieren und die Morduntersucher entsprechend einspannen. Ihre Tätigkeit genoss aufgrund der Schwere der Tat auch in der DDR ein hohes Ansehen durch die Menschen.

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