Nach der gewaltsamen Zerschlagung der Proteste in Kasachstan baut das Regime seine Macht weiter aus. Doch der Kurs von Präsident Kassym-Schomart Tokajew bewirke statt tatsächlicher Stabilität bloß trügerische Ruhe, befürchtet Beate Eschment vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien. Im Interview mit ntv.de resümiert die Zentralasien-Expertin: "So kann ein Staat auf Dauer nicht existieren". Das Kasachstan der Ära Nasarbajew sei zwar endgültig Geschichte. Die politische Perspektive bleibe dennoch düster.
ntv.de: Aus der Ferne wirkt es, als sei die Protestbewegung in Kasachstan eine homogene Gruppierung. Wer ist an den Demonstrationen beteiligt und worum geht es den Demonstrierenden genau?
Die Forderungen, die gestellt wurden, haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie drücken eine immense ökonomische Unzufriedenheit aus. Und die Bevölkerung wendete sich gegen die Korruption, will die alten Eliten absägen, namentlich den bisher immer noch mächtigen ersten Präsidenten des Landes, Nursultan Nasarbajew. Es brodelte deshalb schon länger in ganz Kasachstan. Viele Menschen, die in mehreren Orten des Landes auf die Straßen gingen, stehen am unteren Ende der sozialen Skala. Sie sind unzufrieden und wissen schlicht nicht mehr, wie sie leben sollen. In Almaty scheint jedoch noch etwas ganz anderes abzulaufen. Die Masse an verheerenden Bildern, die uns im Westen erreichen, stammt aus Almaty.
Im Gegensatz zu den meist friedlichen Demonstrationen im Rest des Landes herrschte dort von Beginn an eine große Aggressivität. Auch vonseiten der Demonstranten, die teils bewaffnet waren. Von daher habe ich nicht den Eindruck, dass es sich um eine zusammenhängende Bewegung handelt. Auch eine versteckte Steuerung der Proteste "von oben" schließe ich aus. In diesen Tagen wird allerdings diskutiert, ob nicht einzelne Vertreter der bisherigen Elitefamilien, die ihre Pfründe schwinden sehen, jetzt die Proteste nutzen, um ihre Interessen zu wahren. Das würde ich nicht ganz ausschließen wollen.
Das Problem ist, dass es keine Gegenfigur zu Tokajew gibt. Selbst wenn er bereit wäre zurückzutreten, was käme dann? Wobei das eh als ausgeschlossen gilt. Aktuell sieht es ja so aus, als sei in Almaty, aber auch in anderen Regionen, wieder weitgehend Ruhe hergestellt. Doch was dort dann herrschen wird, ist eine Friedhofsruhe. So kann ein Staat auf Dauer nicht existieren. Und dann sind da noch die russischen Truppen, die er ins Land geholt hat. Er hat sich damit keine Freunde in der Bevölkerung gemacht. Selbst unter denen nicht, die vorher auf seiner Seite waren. Tokajew wird Putin nun immer zu Dank verpflichtet sein. Der hat ja in der Vergangenheit bereits die Staatlichkeit Kasachstans angezweifelt. Ich glaube zwar nicht, dass Putin jetzt à la Ukraine anfängt, Teile von Kasachstan zu annektieren. Aber das Verhältnis zwischen den beiden Staaten hat sich mit der Aktion definitiv verändert.
Sind die Unruhen die große Chance für Russland, seinen Einfluss in Zentralasien massiv zu erweitern?
Sind die Unruhen die große Chance für Russland, seinen Einfluss in Zentralasien massiv zu erweitern?
Viel wichtiger finde ich, dass die ganze Situation auf russischer Seite große Unruhe ausgelöst haben wird. Im Kreml glaubt man schon immer, aus Zentralasien komme der Islamismus, der Terror, die Instabilität. Russland teilt eine lange Grenze mit Kasachstan - einem Land, das bislang als eine Art Pufferzone zu weitaus instabileren Staaten wie Kirgistan oder Tadschikistan galt. Dass dieser direkte Nachbar wackelt, nährt mit Sicherheit auch eine diffuse Angst, die für Russlands Blick auf Zentralasien typisch ist.
In Kirgistan ist es 2020 zu schweren Unruhen gekommen, 2021 haben in Afghanistan die Taliban wieder die Macht an sich gerissen. Was bedeuten die Unruhen in Kasachstan für die Region?
Ich denke, dass Kasachstan halbwegs zur Stabilität zurückkehren wird. Von einem kirgisischen Szenario gehe ich nicht aus. Dort befinden sich etliche Elitegruppen quasi in einem permanenten Machtkampf miteinander. In Kasachstan ist die Situation anders. Die Elite ist klein und war bislang eng mit den Präsidenten verbunden. Newcomer, Menschen, die ganz andere politische Ideen haben, hatten es schwer. Unter Nasarbajew oder später Tokajew konnte sich keine andere Partei oder Gruppierung wirklich gut positionieren. Sobald sich jemand kritisch geäußert hat, wurden Parteien entweder verboten oder gar nicht erst zugelassen und Politiker ins Exil getrieben. Das kasachische Regime schließt eine Opposition systematisch aus. Aber natürlich werden die Präsidenten der anderen zentralasiatischen Staaten, die ja in den meisten Fällen ein sehr viel rigideres Regime führen, mit großer Nervosität nach Kasachstan schauen.
Präsident Tokajew wurde bisher eher als Apparatschik wahrgenommen, als verlängerter Arm von Ex-Präsident Nasarbajew. Vor wenigen Tagen ließ er das Feuer auf Demonstrierende eröffnen und bezeichnete sie als "Terroristen". Wie passt das zusammen?
Tokajew ist ein erfahrener Politiker, der sich bislang völlig unauffällig verhalten hat. Kein großer Reformer, aber auch kein Gewaltherrscher. Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Entwicklungen umso irritierender. Hätte mir vor zwei Wochen jemand erzählt, dass Tokajew russische Truppen ins Land holt und einen Schießbefehl gegen die eigene Bevölkerung erlassen wird, hätte ich mich gefragt, ob die Person halluziniert. Eine klare Einschätzung der Lage ist jedoch wegen des seit Tagen abgeschalteten Internets beinahe unmöglich. Selbst Telefonieren ist praktisch nicht möglich, Tokajew hat in Windeseile eine Informationsblockade errichtet.
Hinzu kommen Dutzende Tote und Tausende Verhaftungen. Die Bilanz der Unruhen ist jetzt schon verheerend. Wie kann es weitergehen?
Das wäre schon unter normalen Umständen schwer vorherzusagen, wegen der Informationsblockade ist es noch schwerer. Die Ereignisse werden auf jeden Fall ein großer Einschnitt sein, das Kasachstan der Ära Nasarbajew ist endgültig Geschichte. Ich fürchte, dass die Führung des Landes versuchen wird, die Demonstrationen zu kriminalisieren und möglichst schnell zum Alltag zurückzukehren. Und dass sie keine wirklich einschneidenden politischen und wirtschaftlichen Reformprojekte in Angriff nehmen wird. Ich bin erschüttert und gleichzeitig ratlos. Als Nasarbajew 2019 zurückgetreten und die Machtübergabe an Tokajew geradezu orchestriert abgelaufen ist, hofften viele in Kasachstan auf einen Reformprozess. Doch unter dem neuen Präsidenten haben nur minimale Veränderungen stattgefunden. Schnell wurde klar, dass er nur eine Marionette ist, deren Fäden Nasarbajew zieht. Deswegen haben die Demonstranten ja auch gebrüllt "Alter, hau ab!". Jetzt scheint der "Alte" weg zu sein und die Frage nach Zukunftsperspektiven drängt sich auf. Doch wie es weitergehen soll, weiß man in Kasachstan zurzeit nicht.
Mit Beate Eschment sprach Aljoscha Prange
Quelle: ntv.de