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Interview

"Drag ist geschlechtslos. Es gibt keine Grenzen": Drag-Queen Trinity the Tuck im NOIZZ-Interview


Trinity the Tuck ist seit "RuPaul’s Drag Race" und ihrem "All Stars"-Sieg eine der bekanntesten Dragqueens der Welt. Im NOIZZ-Interview haben wir uns mit Trinity unter anderem darüber unterhalten, warum ihr eigener digitaler Live-Drag-Wettbewerb "Love for the Arts" auf Twitch für Künstler*innen unabhängig der Geschlechtsidentität und Drag-Form offen ist und warum sie RuPaul dankbar dafür ist, dass er Drag Mainstream gemacht hat.

Letztes Jahr ist Trinity the Tuck, früher bekannt als Trinity "the Tuck" Taylor, für ihren Drag-Contest "Love for the Arts" in den USA von Stadt zu Stadt getourt, um dort Drag-Wettbewerbe zu veranstalten – dann kam die Pandemie. Social Distancing und geschlossene Clubs haben die Drag-Welt hart getroffen, mittlerweile haben Dragqueens aber ein – auf den ersten Blick ungewöhnliches – neues (digitales) Zuhause gefunden: die Streaming-Plattform Twitch. Dort, wo sich lange Zeit nur Gamer beim Zocken filmten, entwickelt sich Drag gerade zu einer der am schnellsten wachsenden Kategorien.

Mit Trinitys "Love for the Arts Digital Competition" hat die Drag-Community auf der Plattform jetzt ein prominentes virtuelles Aushängeschild, das nicht nur für die Kreativität und Wandelbarkeit von Drag-Künstler*innen steht, sondern auch für Drag, der keinen Unterschied macht auf Grundlage von Geschlechtsidentität, Nationalität oder Art der Drag-Kunst.

Im NOIZZ-Interview haben wir mit Dragqueen Trinity the Tuck über "Love for the Arts" und ihre Anfänge in der Drag-Welt bis hin zu ihrem "RuPaul’s Drag Race All Stars"-Sieg gesprochen. Sie hat uns außerdem verraten, was die größte Errungenschaft ihrer Karriere ist (Spoiler: Es hat nichts mit "Drag Race" zu tun.) und warum Politisch-sein zum Beruf von Dragqueens dazugehört.

Trinity the Tuck im NOIZZ-Interview

Bei "Love for the Arts" treten neun Entertainer*innen wöchentlich in Runway- und Content-Challenges gegeneinander an, um den Sieg und 5.000 Euro mit nach Hause zu nehmen. Obwohl nach Hause nehmen eigentlich der falsche Ausdruck ist, denn zu Hause sind die Teilnehmer*innen bereits. Von Kreieren über Filmen, Schneiden bis Produzieren – alles wird aus der Quarantäne in den eigenen Vier-Wänden von den Queens selbst gemacht. "Die Kandidat*innen haben wirklich die volle Kontrolle über alles, was ihr in der Show seht", erzählt uns Trinity. Bis zum großen Finale am 6. Oktober können Fans auf der ganzen Welt wöchentlich in Echtzeit abstimmen, welche Queen nach dem Lip-Sync-Battle ihrem großen Traum einen Schritt näher kommen soll.

"Love for the Arts" läuft seit 4. August immer dienstags um 01.30 Uhr deutscher Zeit live auf Trinity's Twitch-Channel. Wer Folgen verpasst, kann sie auf Trinitys Patreon-Account nachholen.

NOIZZ: "Love for the Arts" ist ein internationaler, inklusiver Drag-Wettbewerb. Neben Dragqueens und -kings zeigen trans* und AFAB Queens dort, was sie drauf haben. Warum war es dir wichtig, Künster*innen aus der ganzen Welt unabhängig von der Geschlechtsidentität oder Art der Drag-Kunst teilhaben zu lassen? 

Trinity the Tuck: Drag ist nicht nur eine Sache. Drag ist geschlechtslos. Es ist alterslos. Es gibt keine Grenzen. Drag ist im wahrsten Sinne des Wortes alles, was du dir vorstellen kannst – und es ist Kunst. Es ist Performance-Kunst. Es ist superwichtig, alle Arten, alle Aspekte von Drag zu sehen. Es sind nicht nur Boys, die sich als Girls verkleiden. Ja, das ist ein Teil davon, aber es gibt so viele andere Aspekte im Drag.

Es geht darum, sich selbst in etwas Anderes zu verwandeln. Wir haben trans* und nicht-binäre Teilnehmer*innen in der Show. Deren Kunst ist genauso gut, wenn nicht sogar besser als die eines Boys, der sich in Drag schmeißt. Weißt du, was ich meine? Es gibt im Drag einfach kein Gender. Wir sollten einfach alle akzeptieren und alle in unserer Gemeinschaft unterstützen. 

Wie fühlt es sich an, diesmal nicht als Kandidatin, sondern als Jurorin und Gastgeberin bei deinem ganz eigenen Drag-Wettbewerb aufzutreten? 

Trinity: Vor "Drag Race" habe ich an vielen Schönheitswettbewerben teilgenommen und über 30 Titel gewonnen. Ich hatte sogar einen eigenen Schönheitswettbewerb. Bei vielen weiteren war ich als Preisrichterin dabei. Ich war schon immer eine Mentorin. Es war einfach das Beste, dass Twitch mir die Plattform gegeben hat, um diesen Wettbewerb abhalten zu können. 

Soziale Medien sind für Drag heutzutage sehr wichtig, Künstler*innen müssen ihre Inhalte selbst produzieren können. Wurde deine Idee für die Show auch von diesem neuen Aspekt im täglichen Business von Drag-Künstler*innen beeinflusst?

Trinity: Wie die Künstler*innen ihren Content bearbeiten und produzieren, ist ein Teil der Bewertung. Drag-Künstler*innen sind auf YouTube, Instagram und Twitch berühmt geworden – es gibt jetzt all diese Plattformen, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können. Das ist superwichtig, und deshalb ist es auch bei uns ein Kriterium. 

Jede Woche gibt es eine neue Technik-Challenge für die Teilnehmer*innen. In der zweiten Episode war das Thema: "Sew you think you can drag – eine unkonventionelle Materialien-Challenge". Was inspiriert dich zu diesen Themen?

Trinity: Ich glaube, alles. Hast du jemals "Project Runway" gesehen? 

Ja! 

Trinity: Eine meiner Lieblingsshows. Die größte Challenge, die es in jeder Staffel gab, war die "unkonventionelle Materialien-Challenge". Das ist eine großartige Sache für Drag, denn viele Drag-Künstler*innen machen ihre Kostüme selbst. Als ich zu "Drag Race" kam, hatte ich nicht viel Geld. Viele meiner Kostüme habe ich aus Dingen gemacht, aus denen die meisten wahrscheinlich nicht unbedingt Kostüme machen würden.

Ich dachte, es würde Spaß machen, die Teilnehmer*innen aufzufordern, über den Tellerrand zu schauen und darüber nachzudenken, was sie im Haus haben, das sie zu einem Kostüm recyceln können, anstatt es einfach wegzuwerfen. Da wir uns in einer Pandemie befinden, möchte ich nicht, dass die Teilnehmer*innen viel Geld ausgeben. Ich suche nach Kreativität.

Bei "Love for the Arts" gibt es keine*n wöchentliche*n Gewinner*in. Warum?

Trinity: Ich halte es für wichtig, dass sich die Leute darauf konzentrieren, für sich selbst den bestmöglichen Content herauszubringen. Sie sollen sich nicht diese Sorgen machen wie: Oh, ich habe letzte Woche nicht gewonnen, also muss ich mich jetzt stressen. Ich möchte, dass sie sich darauf konzentrieren, einfach sie selbst zu sein. Am Ende wird es nur eine*n Gewinner*in geben, also ist es egal, ob es jede Woche eine*n Gewinner*in gibt.  

Anfang Juli hast du noch getweetet: 'Was ist Twitch überhaupt und was macht man da?', jetzt hast du dort nicht nur deinen eigenen Kanal, sondern auch deine eigene Drag-Show. Wie würdest du dir diese Frage jetzt also selbst beantworten? Wie würdest du Drag auf Twitch erklären? 

Trinity: Dieser Prozess mit Twitch ist sehr schnell vorangeschritten. Ich war auf der Suche nach einem Streaming-Dienst, bei dem ich meinen Wettbewerb veranstalten kann. Mehrere meiner Freund*innen, die Drag machen, haben Shows auf Twitch produziert. Ich habe immer gedacht, dass Twitch nur für Gamer zum Streamen gedacht ist. Ich bin selbst kein großer Gamer, also habe ich es nie genutzt. Aber einige Leute schlugen vor, dass ich mir das mal anschauen sollte. Ich ging also auf Twitch und erstellte ein Profil.

Mein Vorschlag wäre: Erforscht Twitch einfach! Ihr könnt da alles machen. Es gibt Leute, die dort Talkshows machen, es gibt Leute, die Food-Shows machen, Drag-Shows, Gaming ... Twitch war während dieses gesamten Prozesses wirklich großartig. Sie sponsern auch das Preisgeld von 5.000 Dollar für den*die Gewinner*in.

Glaubst du, dass Twitch die Drag-Kultur und Drag als Kunstform in gewisser Weise beeinflussen wird? 

Trinity: Ich glaube, das hat es bereits. An den meisten Orten der Welt sind Drag-Künstler*innen derzeit nicht in der Lage, in Bars aufzutreten. Also müssen wir unsere Produktivität und unser Talent auf andere Art und Weise nutzen. Twitch ist der perfekte Weg dafür. Es ist der perfekte Ort, um eine Szene, einen Raum, eine Show fürs Publikum zu schaffen. 

Die Drag-Community wurden wie die gesamte Unterhaltungsindustrie vom Coronavirus sehr hart getroffen. Auf der anderen Seite wurden so aber auch neue Einnahmequellen geschaffen – zum Beispiel wäre Twitch wahrscheinlich sonst in der Drag-Welt nie so erfolgreich geworden. Wie bist du mit der Pandemie umgegangen? 

Trinity: Die Pandemie hat mich definitiv dazu gebracht, aus meiner Komfortzone herauszutreten und anders zu denken. Es war eine Herausforderung. Ich musste das noch nie zuvor tun. Aber ich bin gesegnet, ich könnte mich niemals über meine Situation beklagen. Es ist superwichtig, dass die Leute wissen, dass die Situation als lokaler Drag-Künstler anders ist – du kennst den Begriff des*der hungernden Künstler*in.

Ich weiß, was mir vor "Drag Race" gezahlt wurde, und es war nicht viel. Mein Vorschlag lautet: Unterstützt sie. Gebt ihnen Trinkgeld. Oder kauft ihren Merch. Weil sie es wirklich brauchen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich diese Plattform schaffen wollte: Wir wollen lokalen Entertainer*innen helfen, weil sie das Rückgrat unserer Community sind.  

Gibt es etwas, was dir digitalen Drag-Shows besonders gefällt? 

Trinity: Ich liebe, dass wir schneiden können. Du kannst deine Show aufregender gestalten, indem du verschiedene Winkel und unterschiedliche Belichtung verwendest. Ich muss aber auch sagen: Ich vermisse es, vor einem Publikum aufzutreten. Aber das ist etwas anderes. Ich denke, selbst wenn diese Pandemie vorbei ist, möchte ich weiterhin auf Twitch auftreten. Es ist absolut einzigartig.

In Polen gibt es im Moment eine neue Welle an Homophobie. Die LGBTQ-Community hat dort gerade eine ziemlich harte Zeit. Für Länder wie diese könnte Twitch ein Ort sein, an dem Menschen Zugang zur Drag-Kultur erhalten, auch wenn es in ihrer Nähe keinen Zugang vor Ort dazu gibt. 

Trinity: Das ist es, was ich an Twitch liebe. Du kannst buchstäblich auf der ganzen Welt streamen. Menschen aus Kleinstädten auf der ganzen Welt, die keinen Zugang zur Drag-Kultur haben, können es sehen – und sogar selbst Drag machen.

Du bist selbst in einer Kleinstadt in Alabama aufgewachsen. Würdest du dir rückblickend wünschen, es hätte damals schon so etwas wie Twitch gegeben? 

Trinity: Als ich ein Kind war, gab es weder soziale Medien noch Streaming-Dienste. Ich wünschte wirklich, es hätte so etwas gegeben. Ich hätte mich wahrscheinlich viel wohler gefühlt, wenn ich eine Community wie auf Twitch um mich herum gehabt hätte, die mich unterstützt. Aber man lebt und man lernt. Das Gute ist: Wir haben das alles jetzt für die jüngeren Zuschauer*innen. Ich halte Twitch für einen sehr positiven Ort. 

Man kennt dich als eine Queen, die ihre Meinung sagt und auch zu politischen Themen Stellung nimmt. Warum ist dir das wichtig?

Trinity: Ich bin in der Position als Drag-Artist, dass ich in einem Land lebe, in dem ich zum größten Teil meine Meinung einfach frei sagen kann. Weil ich eine Plattform habe, ist es für mich wichtig, meine Stimme für meine Community einzusetzen, denn es gibt Orte, an denen sie nicht für sich selbst sprechen kann.

Drag-Artists waren schon immer und werden immer die Matriarchen oder die Stimme, die Sprecher der Community sein. Es war schon immer unsere Aufgabe, politisch zu sein. Drag an sich ist politisch. Es liegt an uns, für unsere Community einzutreten. Denn die Leute werden uns zuhören. Ich habe über eine Million Follower auf Instagram, auf Twitch werden es immer mehr – es wäre für mich eine Ungerechtigkeit, das nicht positiv zu nutzen.

Wie hat sich deiner Meinung nach "RuPaul's Drag Race" auf Drag als Kunstform ausgewirkt? 

Trinity: "RuPaul's Drag Race" hat Drag wirklich Mainstream gemacht. Ich kann RuPaul gar nicht genug dafür danken. Es war wirklich eine positive Sache für unsere Community. Es war eine positive Sache für LGBTQIA+-Leute und für Drag-Künstler*innen, um als Künstler*innen ernst genommen zu werden. Was ich liebe: Alle machen jetzt Drag. Zum Beispiel Drag-Cons: Du siehst da kleine Kinder mit ihren Eltern und das kleine Kind ist in Drag. Es ist eine lustige Sache – und so sollte es auch sein. Drag soll Spaß machen und dir erlauben, dich auszudrücken, wie auch immer du willst. 

Hast du einen Lieblingslook aus "All Stars" oder "RuPaul's Drag Race" Staffel 9, den du getragen hast? 

Trinity: Am besten gefiel mir das Kleid, das ich im Finale [von Staffel 9] getragen habe, das Teetassenkleid. Es ist einfach spektakulär. Der Designer, der es für mich entworfen hat, ist unfehlbar. Er ist auch derjenige, der das Finalkleid von Violet Chachki in ihrer Staffel geschaffen hat. Ich habe aber mehrere Dinge, die ich gerne trage. 

Vor "Drag Race" hast du an Schönheitswettbewerben teilgenommen, nach "Drag Race" kam "All Stars". Inwiefern war die Vorbereitung für "All Stars" anders als bei deiner ersten Teilnahme an "Drag Race" in der neunten Staffel? 

Trinity: In Staffel 9 hatte ich 2.000 Dollar für meine gesamte Garderobe für die Show. Wenn du versuchst, aus 2.000 Dollar 20 Looks zu machen, ist das nicht viel. Für "All Stars" hatte ich ein viel größeres Budget. Das ist der größte Unterschied – und ein weiterer Grund, warum ich gegenüber den Teilnehmer*innen von "Love for the Arts" immer wieder betone, dass ich nicht möchte, dass sie zusätzliches Geld ausgeben.

"Drag Race" ist ein bisschen anders, weil es im Fernsehen läuft und die Leute dort etwas anderes erwarten. Wir haben nicht das Budget, das "Drag Race" hat, also möchte ich, dass die Teilnehmer*innen das nutzen, was sie haben. Das ist der Unterschied zwischen mir als lokaler Queen, die bei Staffel 9 startet, und als "Drag Race"-Queen, die bei "All Stars" startet.  

Was ist für dich persönlich die bisher größte Errungenschaft deiner Karriere? 

Trinity: Ich habe vor "Drag Race" an einem nationalen Wettbewerb hier in den Staaten teilgenommen. Er nennt sich "Nationale*r Entertainer*in des Jahres". Ich nahm seit 2005 an diesem Wettbewerb teil, erst 2015 habe ich ihn gewonnen. Innerhalb von zehn Jahren habe ich sechs Mal daran teilgenommen. Daran sieht man: Gebe nie deine Träume auf. Wenn du etwas wirklich willst, arbeite sehr hart dafür, es zu erreichen. Deshalb bedeutet mir dieser Titel von allem, was ich je erreicht habe, am meisten – weil ich wirklich hart dafür gearbeitet habe. 

Hast du mittlerweile eigentlich das Gespenst in deinem Spiegel loswerden können? Oder spukt es in deinem Haus immer noch? 

Trinity: Oh mein Gott, das Gespenst! Es sind noch ein paar andere Dinge passiert, aber andererseits weiß ich auch nicht, ob ich mich einfach nur selbst verrückt mache. Ich bin definitiv auf der Suche nach dem Gespenst, aber der Spiegel ist weg. Er ist nirgendwo mehr zu sehen.