1 Abo und 0 Abonnenten
Interview

Rico Nasty im NOIZZ-Interview über Widersprüche, Randale und ihre drei Persönlichkeiten


Wir haben mit US-Rapperin Rico Nasty unter anderem über die bittersüßen Hintergründe ihres Debütalbums "Nightmare Vacation" gesprochen, über Geschlechterklischees in der Musikindustrie und darüber, was hinter ihren Persönlichkeiten "Tacobella" und "Trap Lavigne" steckt.

Lasst uns ehrlich sein. Es ist 2020, wir stecken mitten in einer weltweiten Pandemie und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Wir wollen nicht mehr getröstet werden, wir wollen ins Kissen schreien oder besser noch – direkt aus dem Fenster. "Nightmare Vacation", das Debütalbum der 23-jährigen US-Rapperin Rico Nasty, hätte deshalb zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Ricos explosive Tracks verschlucken dich in einem Stück und spucken dich therapiert wieder aus, erleichtert und energiegeladen zu gleich. Genau das ist auch Ricos Ziel: Die 23-Jährige verbindet nicht nur Punk und Rap, sondern wie sie selbst sagt: Randale und Selbstliebe.

Rico Nasty, die eigentlich Maria Kelly heißt, interessiert sich nicht für Genregrenzen, von Rap über Rock und Punk bis hin zu Screamo deckt die 23-Jährige alles ab. Ebenso wenig interessieren Rico die Rollen, die die männerdominierte Musikindustrie für Rapperinnen vorgeschrieben hat. In High Heels wird man Rico auf einer Bühne aller höchstens bei der Amtseinführung des US-Präsidenten oder ihrer eigenen Hochzeit sehen, erklärt die Rapperin aus Maryland, Virginia, im Interview. Dass Rico trotzdem längst zur Fashion-Ikone geworden ist, ist der perfekte Mittelfinger an die Geschlechterklischees der Welt des Hip-Hop. Bekannt für ihre bunten, ausgefallenen Perücken zeigt die 23-Jährige regelmäßig mit ihren bis ins letzte Detail ausgefeilten Looks und ihren ausdrucksstarken Musikvideos, dass ihre Kreativität lange nicht nur auf Musik beschränkt ist.

Zum ersten Mal tauchte Rico auf dem (T)Rap-Radar mit den Singles "iCarly" und "Hey Arnold" auf, mit denen sie 2016 viral ging. Knapp zwei Jahre später gelang der US-Rapperin mit "Smack a Bitch" schließlich endgültig der Durchbruch. Mit dem Record-Deal von Atlantic in der Tasche droppte Rico letztes Jahr ihr bisher erfolgreichstes Mixtape "Anger Management" und auch im Jahr 2020 ließ die 23-Jährige nichts anbrennen. Allein in den letzten drei Monaten veröffentlichte Rico drei Singles ("Don't Like Me", "OHFR?", "STFU"), Anfang Dezember feierte sie nach insgesamt sieben Mixtapes die Veröffentlichung ihres Debütalbums "Nightmare Vacation" mit Features wie Gucci Mane, Amine und Trippie Redd.

Heute lebt Rico mit ihrem fünfjährigen Sohn Cameron und ihrem langjährigen Freund und Manager Malik Foxx gemeinsam mit Hund ("Fish") und Schlange ("Voldemort"), immer noch in Maryland, Virginia. Während des Zoom-Interviews sitzt die DMV-Rapperin entspannt auf einem Sofa und klingt erst einmal etwas erschöpft. Wie sich bereits bei der ersten Frage herausstellen wird, gibt es dafür aber auch einen guten Grund. Sowieso ist die anfängliche Erschöpfung aber schnell wieder verflogen, dann ist die 23-Jährige genau so wie erwartet: Ganz natürlich verfeinert Rico jede ihrer Antworten mit einer extra Prise Power, Punk und Attitude. Sie wird laut dann plötzlich wieder ganz ruhig. Sie verstellt und verzerrt ihre Stimme und unterstreicht alles mit großer Mimik. Rico ist verdammt witzig und droppt ganz nebenbei die ein oder andere Truth-Bomb, die ins Grübeln bringt.

Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres steilen Aufstiegs, ist Rico komplett auf dem Boden geblieben. Zwischendurch zündet sie sich einen Joint an, und es wirkt fast, als würde man sich mit einer Freundin unterhalten. Wenn Rico spricht, ist da kein Filter, sie ist einfach sie selbst. Trotz zwei Bildschirmen und fast 7.000 Kilometer Entfernung ist die Energie der 23-Jährigen deutlich zu spüren.

Rico Nasty im NOIZZ-Interview

Im Interview spricht NOIZZ mit Rico unter anderem über "Nightmare Vacation", Gut und Böse und ihre Message an Frauen. Außerdem verrät die Rapperin, warum es immer besser ist, auf der Bühne auszuflippen statt angepasst zu sein, und was hinter ihren drei Persönlichkeiten steckt.

NOIZZ: Gerade ist dein Debütalbum "Nightmare Vacation" gedroppt. Wie fühlst du dich? Das muss doch wahnsinnig aufregend sein.

Rico Nasty: Oh mein Gott ... ich fühle mich so ... Ich weiß es nicht mal. Ich hatte gerade das unangenehmste Interview überhaupt. Ich bin noch etwas durcheinander. (lacht) Ich versuche gerade, mich zusammenzureißen, denn dieser Mann hat mich komplett überrumpelt. Ich fühle mich, als hätte ich gerade meine Angst vor einem schrecklichen Interview überwunden. Weil das eben war echt schrecklich. Er hat einfach all die schlimmsten Fragen gestellt. Jetzt, wo das aus dem Weg geräumt ist, gibt es nichts mehr, wovor ich Angst haben muss. Das ist wahrscheinlich das Schlimmste, was passieren kann, die Sachen, die er gesagt hat. 

Ok, jetzt bin ich neugierig. Was zur Hölle hat dich dieser Typ gefragt?

Rico Nasty: Neeeein, oh mein Gott (lacht). Okay, er meinte so (Rico imitiert eine tiefe Stimme): "Anger Management" hat eine Geschichte erzählt und dieses Album erzählt keine.

Ich meinte dann so: Ich wusste nicht, dass alle meine Alben konzeptionell sein müssen. Ich habe so viele Persönlichkeiten, und ich wollte euch nicht ein Projekt voller EDM-Musik geben, weil ich "iPhone" mag. Oder voller harter Songs, weil ihr "Anger Management" mögt. Ich wollte euch verschiedene Gebiete zum Erkunden geben.

Darauf hat er gesagt: Das klingt nach einem ziemlich schizophrenen Vibe.

(Rico schreit jetzt fast) Innerlich war ich so: WHAT?! Was bitte willst du damit sagen? Was soll das bedeuten? Ich habe dann aber nur gesagt: Das ist cool, denn wo das herkam, gibt es noch viel mehr.

Er hat auch meinen Lieblingssong des Albums auseinander genommen. Er konnte es nicht für sich behalten, er musste Negativität verstreuen. 

Okay, das klingt wirklich anstrengend. Den Worst Case hast du jetzt also durchlebt, was wäre denn im Gegensatz dazu dein Best Case? Also, was sollen die Leute von dem Album mitnehmen? 

Rico Nasty: Nicht jedes Album wird ein Konzeptalbum sein. Es wird nicht immer Verknüpfungen geben. Ich möchte, dass die Leute mitnehmen, dass sie eine gute Zeit haben. Ich habe das Gefühl, dass das ganze Jahr schon alle denken, sie seien professionelle Musikkritiker*innen. Die denken sich dann: (Rico verstellt ihre Stimme) Ich habe nun mal Zeit, weil ich keinen verdammten Job mehr habe. Also habe ich mir das Projekt von Anfang bis Ende angehört, und ich hasse es.

So. The fuck. What.

Alle faseln was von, dieser und jener Song und das hängt zusammen ... Und ich bin nur so: Es ... es ist nur Musik. (schreit) Warum tut ihr mir das an?! Stopp! Das ist eine Reihe an Songs, die ich für meine besten halte. Ich will nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen. Niemand will das hören. Wir wollen Spaß haben, wir wollen uns frei fühlen. Like, fuck. (lacht).

Was steckt eigentlich hinter dem Titel "Nightmare Vacation"?

Rico Nasty: Shit ... alles ist eine nightmare vacation. Zu viel von einer Sache ist nie gut, niemals. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Sex, zu viele Drogen, zu viele Perücken (lacht). Fuck, zu viele Perücken ... Nimm deine Perücke ab, oder dein ganzer Haaransatz wandert zurück, bitch. Verstehst du, was ich meine (lacht).

Albtraum-Urlaub bedeutet wörtlich, dass es kein Gut ohne Böse und kein Böse ohne Gut gibt. Ich habe das Gefühl, dass ich mit "Sugar Trap" auch ein bisschen darauf eingegangen bin. Zu dieser Zeit war ich besessen von Gut und Böse. Ich versuchte herauszufinden, in welche Linie ich falle: Bin ich ein Bösewicht oder eine Superheldin? Was bin ich? Was ist meine Message? Ich versuche, Frauen zu sagen, sie sollen rausgehen und fucking randalieren, aber gleichzeitig Selbstliebe promoten. Das ist irgendwie widersprüchlich. Also dachte ich mir, warum nicht einen widersprüchlichen Titel wie "Nightmare Vacation". 

Du channelst mit deiner Musik so viel Emotion, Power und Selbstbewusstsein. Was treibt dich an? Was inspiriert dich dazu, auf die Bühne zu gehen oder ins Studio und dort Rico Nasty zu sein, die einen Fick auf gesellschaftliche Normen oder die der männerdominierten Musikindustrie gibt? 

Rico Nasty: Ich weiß es nicht. Ich liebe es, nicht unbedingt, wenn ich Leute überzeugen muss, aber ich liebe dieses verzogene Gesicht, das Leute machen. Die sagen dann: What the fuck. Seht ihr das nicht? Ich liebe diese Reaktion.

Ich hatte Shows, in denen ich wie ein normaler Mensch aufgetreten bin, ohne mich wirklich viel zu bewegen. Das war am Anfang, als ich noch nervös war. Ich habe die Reaktion gesehen, die man darauf bekommt. Man sieht mehr Leute, die ihre Freund*innen fragen: Was macht die da?! Versus: Wenn du da hochgehst, voll aufgedreht, in deiner eigenen Welt. Die wissen nicht, was du da machst, also schauen sie dir zu. Du bist die Show. Also gehst du da hoch und flippst aus. Du dominierst den Scheiß.

Ich habe vielen männlichen Künstlern bei ihren Auftritten zugeschaut und dachte mir: Bro, woher nehmen die diese Energie? Den Scheiß probiere ich aus. Und genau das, habe ich auch getan.

Was bedeuten dir die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit? Oder besser gesagt, was denkst du über diese Konzepte und die traditionellen Rollen, die mit ihnen einhergehen? 

Rico Nasty: Ich finde, diese Konzepte dämlich. Wir haben alle ein Gehirn. Wir sind alle in der Lage, die Entscheidungen zu treffen, die wir treffen wollen. Und wenn diese Entscheidung dir Unbehagen bereitet, dann tut es mir leid, dass deine Eltern dich nicht zu einer dickeren Haut erzogen haben. Also kümmere dich um dich selbst. Ich glaube wirklich, dass es genau darum geht. Als Frau soll man bei Auftritten das und jenes tragen, man braucht Tänzer*innen, musst diese Dancemoves draufhaben und seinen Arsch zeigen. Ich trete dir eher in den Schwanz, als auf der Bühne anfangen zu twerken. Mir ist das egal und meinen Fans auch.

Ich erinnere mich an ein Mal, als ich auf der Bühne getwerkt habe. Ich habe mich in dem Moment einfach gefühlt. Ich drehte mich um und ein Mädchen sah mich so an wie: Was machst du da?! Hör auf! (bricht in Lachen aus) Meine Fans sind so. Wir als Gruppe glauben nicht an diese stupid ass Stigmen. Die Tatsache, dass Frauen sich Tanzroutinen in Heels merken können, ist unglaublich. Ihr Männer werdet nie verstehen, wie das ist.

Ich, werde ich mir das antun? Nachdem ich es so weit geschafft habe? Riskiere ich es, mich zu erniedrigen, in High-Heels auf der Bühne zu stürzen, weil ihr mir sagt, dass Frauen das tun? Nein. Das werde ich nicht. Ich werde das nicht tun. Ich weigere mich. Und wenn ich jemals auf einer Bühne Heels trage, dann bei der Amtseinführung des Präsidenten, bitch. Fuck, es muss etwas wirklich Legendäres sein ... Die Grammys oder so .... meine Hochzeit. Fuck.

Ich glaube, dass sich viele Leute durch deine offene, direkte Art mit dir identifizieren können und du für Fans mit deiner Musik so eine Art Save Space schaffst. Gilt das auch für dich selbst? Sind deine Personas eine Art Save Space für dich? 

Rico Nasty: Save Space ist eine coole Art, es zu bezeichnen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich einfach den Persönlichkeiten, die jede*r in sich trägt, Namen gebe. Jeder hat eine Persönlichkeit, die man ist, wenn man bei der Familie ist; eine, wenn man bei Freunden ist; eine, wenn man bei dem*der Partner*in ist. Wenn du der perfekte Mensch bist und du immer gleich bist, egal bei wem – schön für dich. Ich freue mich für dich, dass du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern hast und dass du keine andere Persönlichkeit haben müsst. Aus Respekt. Du hast echt Glück. Aber für die Leute, die wissen, wie es ist, buchstäblich herunterfahren zu müssen, wer man wirklich ist, um von einer bestimmten Art von Leuten verdaut werden zu können ...

Ich kann nicht einfach all diese Persönlichkeiten haben und sie nicht anerkennen. No. Tacobella ist, wenn ich emotional bin. Trap Lavigne hat eine verdammte Attitüde. Er ist immer aggressiv und unhöflich und richtig bitchy. Er ist der Punkrocker. Und Rico ist die mit den die ganzen coolen Ideen. Die, die immer sagt: Kommt schon, Leute, zusammen schaffen wir das. Alle machen unterschiedliche Dinge, aber alle zusammen sind eine Person. Ich bin sicher, wir alle haben sie, wir haben ihnen nur noch keine Namen gegeben. 

Weißt du noch, wann du deinen Persönlichkeiten Namen gegeben hast? 

Rico Nasty: Ich erinnere mich nur daran, dass ich, als ich anfing, mehr aufzunehmen, irgendwie begann, mich mehr mit den verschiedenen Personas vertraut zu machen. Sie gaben mir verschiedene Perspektiven. Wenn ich in einer Tacobella-Stimmung war, habe ich mich an Tacobella-Erinnerungen erinnert. Erinnerungen an Liebe, Erinnerungen daran, verletzt worden zu sein, Erinnerungen daran, schöne Dinge zu wollen ... Mit solchen Sachen hält sie sich in ihren Gedanken auf. Ich kann darüber rappen, wenn ich in ihrem Vibe bin. Es ist einfach einfacher, Emotionen auf diese Weise aufzuteilen, denke ich, man hat eine weiche, eine wütende und eine, die versucht, alles zusammenzuhalten. 

Zum Abschluss: Was war der beste Moment deiner Karriere bisher?

Rico Nasty: Hmmm ... (überlegt lange)

Oder das beste Kompliment?

Rico Nasty: Ich mag, wenn Leute weinen. Ich mag, wenn Leute weinen, wenn sie mich treffen. I like that shit. Ich sage dann: Warum weinst du? Was habe ich getan? Ich wünschte, ich könnte dich zur Seite nehmen und fragen: Was war es, warum weinst du? Ich bin wirklich ein guter Mensch (lacht). Ich liebe das.