"Die Protestantin" wird Angela Merkel auf einem Cover genannt. Gestolpert bin ich über den Titel noch nie. Eine Freundin schon: Erst beim zweiten Hinschauen hat sie den Zusammenhang mit der Religion kapiert. Gut, Protest wäre nicht das Erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an die Kanzlerin denke - dennoch weiß ich, warum der Protestantismus heißt, wie er heißt, und bin überrascht. Dass angesichts der versöhnten Bilder kirchlicher Amtsträger evangelischer- und katholischerseits vom Protest in der breiten Wahrnehmung nicht viel übrig ist, überrascht mich dagegen nicht. Die konfessionellen Unterschiede sind für Außenstehende kein Glaubensstreit mit Sprengkraft mehr, sondern historisch gewachsene Befindlichkeiten. Über Plausibilität wird nicht mehr nachgedacht, Kompromisse ergeben sich ohne inhaltliche Diskussion. Haben wir das Streiten verlernt?
Sosehr ich mich über das gemeinsame ökumenische Miteinander freue, liegt doch in der Auseinandersetzung große Kraft. Wo ist der Protest geblieben? Ist das Katholische keine Provokation mehr? Protestantische Anfragen täten uns Katholiken gut. Ich vermisse das Ringen um die Wahrheit im ökumenischen Gespräch. Dabei erinnere ich mich aber auch an den Katholikentag vom letzten Jahr in Leipzig, als ich bei der Pressekonferenz fragte, was heute eigentlich "katholisch" heißt. Die Antwort kam prompt: Die Charakterisierung sei natürlich nicht mehr - wie früher - in einem abgrenzenden Sinne gemeint. Ja, "katholisch" meint allumfassend, trotzdem ist das doch keine Zustandsbeschreibung, sondern ein hehres Ziel. Identität entsteht auch durch Abgrenzung. Dazu gehört nicht nur, über die eigene Konfession Bescheid zu wissen, sondern auch über die andere - und darüber, was genau uns trennt. Natürlich macht es etwas mit mir, wenn ich Luthers Kritik an der Gnadenlehre lese. Als Katholik kann man kritische Anfragen an die kirchliche Lehre nicht beantworten, ohne über sich selbst nachzudenken und sich zu fragen, ob man der Gegenposition wirklich etwas entgegenzusetzen hat. Manchmal fördert gerade ein ökumenischer Streit den eigenen religiösen Reifungsprozess. Das ist dann mehr als bloße Apologetik.
In meinem Studium hat mich die "Frauenfrage" stark umgetrieben. Warum haben wir keine Priesterinnen? Finde ich die Argumente schlüssig? Dann habe ich den Blick zur anderen Konfession gewagt. Dass auch die evangelischen Kirchen lange gerungen haben und es teilweise noch immer tun, hat mich überrascht. Die Streitpunkte sind sehr ähnlich. Auch das verbindet. Wer für etwas streitet, zeigt außerdem Einsatz für eine Sache. Wenn es dabei darum geht, die Botschaft Jesu in unsere Zeit zu transportieren, heißt das auch, sie zu verteidigen. Tradition ist nur dann plausibel, wenn sie sich gegen (zeitgenössische) Argumente behaupten kann. Mittlerweile beten wir gemeinsam. Mit Jesus Christus haben wir, als Mitte unseres Glaubens, mehr gemeinsam, als uns trennt. Deshalb bin ich sicher: Wahre Freundschaft hält sachliche Auseinandersetzung aus. Sie hält Protest aus. Sie profitiert sogar davon.