Ein Mann hat ein Zeichen gesetzt, um seinen Unmut über politische Entscheidungen zu äußern. Das klingt gut, das klingt nach etwas, das in einer echten Demokratie alle tun sollten. Insofern könnte man den Rentner, der vor einigen Tagen auf dem Heilbronner Marktplatz mit einem Messer auf eine Gruppe junger Männer eingestochen und dabei einem 17-Jährigen schwere Verletzungen zugefügt hat, fast schon als Demokraten bezeichnen. Denn mit seiner „Aktion" wollte er „ein Zeichen gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik setzen". So formulieren es zumindest die Heilbronner Staatsanwaltschaft und Polizei in einer gemeinsamen Presserklärung. Die Opfer stammen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak.
Dass diese Wortwahl ein Skandal ist, müsste eigentlich jedem, der sie liest - geschweige denn formuliert - sofort ins Gesicht springen. Das war aber offenbar weder bei den Heilbronner Gesetzeshütern noch in vielen Redaktionen der Fall: Nicht nur der Focus und einige Lokalzeitungen übernahmen das Narrativ des Zeichensetzens weitgehend ohne Distanzierung, sondern auch der SWR . Und die Süddeutsche titelte: „Angriff: Unmut über ‚Flüchtlingspolitik' mögliches Motiv".
Hier offenbart sich einmal mehr eine erschreckende Doppelmoral, die im Umgang mit Kriminalität in Deutschland mittlerweile an der Tagesordnung ist. Stellen wir uns zum Vergleich nur einmal kurz vor, was los wäre, wenn morgen in der Zeitung stünde: „Mann sticht auf schwules Paar ein, um ein Zeichen gegen die Ehe für Alle zu setzen", „Aktivist attackiert Banker mit Messer, um ein Zeichen gegen das Finanzsystem zu setzen" oder „Flüchtling sticht Betreuerin nieder, um Unmut über Lebensbedingungen im Flüchtlingsheim auszudrücken".
Die Frage ist: Warum haben sich im Fall des Heilbronner Messerstechers so wenige an der Formulierung gestört? Unterschätzen Behörden und Medien nach wie vor Ausmaß und Potential rechter Gewalt in Deutschland? Oder ist es die allerorten grassierende Angst davor, Kritiker der Flüchtlingspolitik pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen und der AfD so weitere Munition zu liefern?
Beides wäre niederschmetternd. Denn zum einen ist rechte Gewalt trauriger Alltag. Zum anderen hilft man legitimer Kritik nicht damit, dass man rassistische Gewalttaten zu politischen Meinungsäußerungen umdeutet. Im Gegenteil: Auf diese Weise werden andere ermutigt, auch mal ein unmissverständliches „Zeichen" zu setzen. In den Kommentarspalten der Medien (und es sind nicht allzu viele), die dem Vorfall überhaupt größere Aufmerksamkeit geschenkt haben, äußern denn auch die vermeintlich Besorgten Verständnis für den Mann. Irgendwann laufe das Fass eben über, so der Tenor. Viele Menschen in diesem Land scheinen bereit, gesellschaftliche Errungenschaften mit einem Schulterzucken wegzuwerfen und Gewalt gegen Menschen wieder als Ausdrucksmittel im politischen Diskurs zu akzeptieren. Liest man die Fülle dieser Kommentare, muss man zu dem Schluss kommen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich der nächste zum Aktivisten für die gerechte Sache berufen fühlt.
Auf dem Heilbronner Marktplatz sollen übrigens bald zusätzliche Polizeistreifen unterwegs sein, so berichtete der SWR kurz vor dem Messerangriff. Zwar gab bis dahin statistisch keinen Anstieg an Gewalttaten zu verzeichnen. Doch man sorgte sich um das subjektive Sicherheitsempfinden der braven Heilbronner, die sich immer wieder über „herumlungernde Migranten-Gruppen" beklagten.
Nun ist es tatsächlich zu einer schweren Gewalttat gekommen - und merkwürdigerweise ruft bislang niemand nach mehr Polizeischutz für die jungen Flüchtlinge. Da ist sie wieder, die Doppelmoral.