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"Die Storys müssen einfach raus" - Schwesta Ewa im Portrait

Schwesta Ewa vor einem ihrer Autos. Foto: Peter Jülich

Auf der Bühne des kleinen Clubs „Nachtleben" an der Konstablerwache in Frankfurt ist das Testosteron praktisch mit Händen zu greifen. Muskelpakete rappen mit finsteren Mienen von Gewalt, Ehre und Verrat. „Seid ihr gut drauf?", brüllt einer ins Mikro. Mit der halbherzigen Reaktion des Publikums ist er nicht zufrieden: „Das geht lauter!" Vorne links hat jemand genug: „Zu viele Schwänze auf der Bühne!"

Kurz darauf verschwindet der Trupp und auf die Bühne kommt: eine Frau. Zierlich, mit markanten Zügen und tiefer Stimme. Das etwa zur Hälfte weibliche Publikum ist wie ausgewechselt, es wird gejohlt und getanzt. Schwesta Ewa ist der Haupt-Act, der Grund, warum die Leute gekommen sind. Und wahrscheinlich hat die 30-Jährige in ihrem Leben mehr gesehen als all die harten Jungs der Vorband zusammen. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Rapperinnen Deutschlands. Doch bis 2011 arbeitete Ewa Müller, wie die „Schwesta" mit bürgerlichem Namen heißt, rund zwölf Jahre lang als Prostituierte, die meiste Zeit in Frankfurter Laufhäusern. Anfang des Jahres ist ihr erstes Album „Kurwa" (polnisch für Nutte oder Schlampe) erschienen und das Konzert in Frankfurt ist Teil einer Deutschlandtour.

Szenenwechsel. Einige Wochen nach der Show, nur wenige hundert Meter vom Nachtleben entfernt, neigt sich ein frühlingshafter Dienstagnachmittag dem Ende zu. Männer stehen zusammen auf der Straße, reden, rauchen. Eltern holen ihren Nachwuchs von der Tagesstätte „Schaworalle" für Romakinder ab, nur wenige Schritte weiter verlässt ein Mittfünziger mit Brille und Bundfaltenhose eins der Laufhäuser des Viertels - nicht ohne zuvor verstohlene Blicke in alle Richtungen geworfen zu haben. Alltag im Allerheiligenviertel südöstlich der Konstablerwache.

Seit einigen Wochen gehört eine neue Kneipe zu diesem Alltag, die Stoltze-Bar. Hier, schräg gegenüber vom nächsten Bordell, treffen wir Schwesta Ewa zum Gespräch. Vor der Tür posiert sie noch schnell für ein Erinnerungsfoto mit Fans, dann kommt sie mit zwei Freundinnen im Schlepptau herein. Sie zündet sich eine Zigarette an, plaudert mit Gästen und Barkeeperin. Ewa hat die Stoltze-Bar vor kurzem zusammen mit ihrem Freund eröffnet - als zweites Standbein? „Natürlich, ich bin ja Realistin und denke nicht, dass ich jetzt mein Leben lang von der Musik leben kann", sagt sie nüchtern. „Klar, jetzt bekomm' ich Props, alle feiern mich, aber wer weiß, wie lange noch?" Sehr fremd sei ihr der Größenwahnsinn im Rap-Business: „Ich versteh' nicht, wie sich diese Typen hinstellen können und sagen ‚Ich krieg Gold, ich bin der Krasseste von allen', und dann kriegt der natürlich kein Gold und fährt mit der Bahn nach Hause zu Mutti." Sie selbst besitzt zwar gleich zwei schicke Autos, kämpft aber weiterhin mit Selbstzweifeln: „Vor dem Konzert in Frankfurt war ich so aufgeregt, dass ich Herpes bekommen habe", sagt sie grinsend.

Nach wie vor lässt sie ihre Texte, die sie alle selbst schreibt, von ihren Produzenten gegenlesen - und verabschiedet sich im Zweifel seitenweise vom Geschriebenen: „Ich habe eben noch nicht so viel Erfahrung." Trotzdem ist Schwesta Ewa stolz auf ihren Erfolg - ein Erfolg, von dem sie niemals zu träumen gewagt hatte, als sie ihre ersten Schritte in der Musikwelt tat. 2011 war das. Da bekam sie einen Anruf von Xatar, dem in der Deutschrap-Szene berüchtigten Boss des Plattenlabels „Alles oder nix-Records", den sie Jahre zuvor in Bonn kennengelernt hatte. Xatar saß zu diesem Zeitpunkt wegen eines Überfalls auf einen Geldtransporter im Gefängnis, und Ewa in ihrem Zimmer im Laufhaus fest. Wie lange sie ihre Beine dort noch breit machen wolle, fragte er. Schließlich sei sie fast 30. Er schlug vor, einen Track mit ihm aufzunehmen. Sie hielt das Ganze für eine absolute Schnapsidee: „Ja klar, mit der Musik raus aus dem Puff - so was kannst du einer Nutte nicht erzählen."

Schließlich ließ sie sich überzeugen: „Ich hab gedacht, so krieg' ich vielleicht noch ein paar Freier mehr." Gesagt, getan: Ende 2011 wurde der Track „Schwätza" produziert, samt Videodreh im Bahnhofsviertel. Der Beat funky, die Reime noch etwas holprig. Als das Video auf Youtube veröffentlicht wurde, erwartete sie höchstens 10.000 Klicks - am nächsten Morgen waren es 30-mal so viele. Das war der Moment, in dem sie beschloss, es ernsthaft mit der Musik zu versuchen, aus Ewa Müller wurde Schwesta Ewa. Die Euphorie wurde schnell gedämpft. „Die ersten drei Tage saß ich nur vor meinem Computer und hab mich stundenlang durch die Kommentare geklickt", sagt sie stirnrunzelnd. „Die waren zu 99,9 Prozent negativ." „Negativ" ist noch ein freundliches Wort für die Abgründe, die sich vom ersten Tag an in den Kommentarspalten unter jedem ihrer Videos oder Facebook-Einträge auftun.

Dass eine Ex-Prostituierte sich ins Licht der Öffentlichkeit und in den Schoß der vermeintlich ehrbaren Gesellschaft wagt, und dann auch noch offen über ihre Erlebnisse berichtet, lässt die Emotionen hochkochen. Männer wie Frauen preisen da Moral und Ehre und ergehen sich eine Zeile weiter in übelsten Gewaltfantasien - viele von ihnen unter Echtnamen und mit Profilbildern, auf denen sie ihre Kinder knuddeln. Beliebt ist die Behauptung: „Du kriegst die Nutte vielleicht aus dem Puff, aber nicht den Puff aus der Nutte." Zumindest in diesem Punkt stimmt Ewa mit den Kommentatoren überein. Sie werde ihr Leben lang einen „Puffschaden" behalten, ist sie überzeugt. Männern vertraue sie grundsätzlich nicht mehr, dafür habe sie zu viele Familienväter, Polizisten und Banker in ihrem Bett gehabt. Bis heute spricht sie voller Verachtung über die ehemaligen Freier. Und welche Aggressionen nach wie vor in ihr schlummern, zeigen online kursierende „Skandalvideos", in denen eine prügelnde Schwesta Ewa zu sehen ist. Stolz ist sie darauf nicht. Von ihrem alten Arbeitsumfeld aber will sie sich keineswegs distanzieren, im Gegenteil: „Mein halbes Leben habe ich im Milieu verbracht, das hat mich geprägt." Ihre Freizeit verbringt sie weiterhin oft mit den Ex-Kolleginnen im Bahnhofsviertel: „Mit denen quatsche ich gerne, das ist einfach was anderes als mit lieben, braven Mädels."

Einen krassen Einblick in die Welt dieser Frauen erlaubt Schwesta Ewa auf ihrem Debütalbum. Da geht es um Menschen wie Elise, die Ewa vor gewalttätigen Freiern beschützte und die später auf Heroin hängenblieb. Wie Dariusz, der eine Gruppenvergewaltigung erst bereut, als er erkennt, dass das Opfer seine eigene Schwester ist. Wie Leyla, die aus Liebe auf den Strich geht, erst beschenkt und dann betrogen wird. Doch es gibt nicht nur gute Mädchen und böse Jungs, Moral spielt kaum eine Rolle in Ewas Texten. Sie berichtet, was sie gesehen hat, erzählt Geschichten von Menschen, die für Außenstehende nichts anderes sind als Junkies, Nutten oder Dealer. Hinter jedem von ihnen, so die Botschaft, steht ein eigenes Leben, meist geprägt von Verlust- oder Gewalterfahrungen. Doch im Milieu ist keine Zeit, all diese Schicksale zu betrauern - und sonst tut es auch keiner. In „Spiegelreflex", einem der bemerkenswertesten Songs des Albums, heißt es: „Einer stirbt, es ist Thema - nur kurz, denn es muss weitergehen, brauchen Essen auf dem Tisch. Bis morgen Nacht, wir treffen uns am Strich."

Pragmatismus - manchmal Härte - als Überlebenstaktik: Auch Ewa scheint davon geprägt. Vergewaltigungen, Drogensucht, Verlust - all das hat sie selbst erlebt. Aber Selbstmitleid gesteht sie sich nicht zu, und mittlerweile lässt sie sich auch von der Hetze im Internet nicht mehr weichmachen, heizt sie manchmal noch durch provokante Fotos und Kommentare an: „Ich mach mir einfach immer wieder klar: Diese Leute haben mich mit ihrem Hass hierhin katapultiert. Ohne meine zwölf Jahre im Puff wäre ich nie so populär geworden." Außerdem hat sie mittlerweile erkannt, dass der Hass hauptsächlich den virtuellen Raum verpestet, im wahren Leben erlebt sie kaum Anfeindungen.

Zart besaitet war Ewa nie: „Ich hab eigentlich mein ganzes Leben in einer Männerwelt verbracht." Mit sechs Jahren fängt sie an Fußball zu spielen. In Kiel. Dort verbringt sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend, nachdem sie früh mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihren Brüdern aus Polen weggezogen ist, wo der Vater wegen Mordes im Gefängnis saß. In Deutschland lebt die Familie zunächst im Asylbewerberheim, später im Frauenhaus.

Als Kind will Ewa Ergotherapeutin werden. Ihre Fußballkarriere dauert immerhin bis zum Beginn der Pubertät: „Nach sechs Jahren im Mittelfeld wollten die mich in die Abwehr stecken. Da hatte ich keinen Bock drauf." Die erwachsene Ewa grinst. Mit 14 Wimperntusche und die erste Schlaghose, was die Mutter nicht gerne sah: „,Werd ein anständiges Mädchen', hat sie gesagt." Genützt hat es nichts. Mit 16 fängt Ewa an, in einer Kneipe zu arbeiten, wo sie Prostituierte und Zuhälter kennenlernt, die immer gutes Geld in der Tasche haben. Da beschließt sie, so bald wie möglich auch ins Geschäft mit der käuflichen Liebe einzusteigen.

Das Texteschreiben sei ihre Therapie, sagt Ewa. Dabei hat sie erst einen Bruchteil ihrer Erlebnisse zu Songs verarbeitet: „Wenn es nach mir ginge, wäre das ganze Album voller Storys". Doch beim „Alles oder nix"-Label sah man das anders: „Die Jungs haben gesagt ‚Chill mal, für manche Leute ist das zu viel.'" Es bleibt also genug Stoff für ein nächstes Album. Ewa freut sich schon: „Ich hab noch so viele Storys zu erzählen. Die müssen einfach raus!"


Dieser Artikel ist Mitte 2015 erschienen, lange bevor die Rapperin wegen Körperverletzung und Steuerhinterziehung verurteilt wurde.

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