Victoria Jürgens und Plamena Paunova sind dick eingepackt, als sie an diesem eiskalten Januarabend die Theodor-Heuss-Anlage entlanggehen. Über ihren Jacken tragen die beiden neongelbe Westen: „Streetwork" steht darauf. Als sie an der Zufahrt zum Messeparkhaus vorbeikommen, sehen sie in einigen Hundert Metern Entfernung eine kleine Gestalt. Kristina steht an einer schmalen, von Hecken gesäumten Nebenstraße. Hinter ihr ragt die Fassade der Messebauten in den dunklen Himmel, ein paar Meter weiter rasen die Autos von der nahen Autobahnabfahrt Richtung Stadtzentrum. Der Straßenstrich an der Theodor-Heuss-Allee ist Kristinas Arbeitsplatz, hier wartet sie auf Freier.
Trotz der Minusgrade trägt die Mittdreißigerin nur eine dünne Jacke. Keine Mütze, keinen Schal. Dennoch lehnt sie dankend ab, als die Streetworkerinnen des Beratungszentrums „Frauenrecht ist Menschenrecht" (FIM) ihr einen Becher mit heißem Tee anbieten. Sie sei gerade erst gekommen und habe zu Hause gegessen und getrunken, sagt sie auf Bulgarisch, Deutsch spricht sie wie viele der Frauen auf dem Straßenstrich kaum.
Die Streetworkerinnen sind deswegen immer in Zweierteams unterwegs. Paunova übersetzt für ihre Kollegin. Tee will Kristina zwar keinen, aber ein Anliegen hat sie doch: Sie würde gerne zum Zahnarzt gehen, seit ein paar Tagen habe sie starke Schmerzen, sagt sie und verzieht das Gesicht. Jürgens verabredet mit ihr, sie zur Straßenambulanz der Caritas zu begleiten. Kristina ist nicht krankenversichert.
Als das geklärt ist, plaudern die drei noch ein wenig über Kristinas Mutter, die krank war. Die FIM-Mitarbeiterinnen kennen alle Frauen auf dem Straßenstrich, einige schon seit Jahren. Es sind meistens dieselben, die Nacht für Nacht dastehen. „Sie wissen, dass sie sich mit Problemen an uns wenden können", sagt Jürgens. Das sei wichtig - auch wenn die Möglichkeiten in den kurzen Gesprächen und bei dieser Kälte begrenzt seien.
Streetworkerinnen helfen den Frauen am Straßenstrich in der Theodor-Heuss-Allee.Der temporäre Nachtbus, mit dem die Sozialarbeiterinnen früher auf dem Straßenstrich präsent waren, ist vor drei Jahren gestrichen worden. „Toll wäre, wenn wir hier einen festen Container hätten, als Anlaufstelle für Gespräche und Hilfsangebote - und zum Aufwärmen." Bis auf zwei Dixie-Klos fehlt an der Theodor-Heuss-Allee jegliche Infrastruktur. Doch die Frauen müssen in dieser abgelegenen Gegend stehen, denn sie ist die einzige, in der die Stadt Straßenprostitution erlaubt.
Als die beiden Streetworkerinnen sich nach einigen Minuten verabschieden, bleibt Kristina zurück. Ganz allein bis auf die Autos mit ihren Kennzeichen aus dem Umland - Main-Taunus-Kreis, Offenbach, Groß-Gerau -, die alle paar Minuten langsam an ihr vorbeirollen.
Auf der anderen Straßenseite, stadtauswärts, ist mehr los. Die Frauen kommen auf Jürgens und Paunova zu. Gerne nehmen sie den Tee, bitten um ein paar Kondome und stehen danach für einige Minuten mit den dampfenden Plastikbechern zusammen. Es sind ganz unterschiedliche Frauen, die an diesem Abend an der Theodor-Heuss-Allee ihrer harten Arbeit nachgehen. Da ist zum Beispiel Jessy, die mit ihrem Engelsgesicht und der blonden Flechtfrisur aussieht wie 17, aber sagt, sie sei 20. Da ist Simona, eine 51-jährige Transsexuelle, die in der Obdachlosenunterkunft im Ostpark lebt. Und da ist Margarita, eine resolute Mittzwanzigerin, die recht gut Deutsch spricht und über die Kälte flucht.
Die Frauen reden über dies und das, wieder geht es um Arztbesuche, und Jessy erzählt strahlend, dass bald ihr Freund aus Bulgarien zu Besuch komme. Nur über Probleme wollen sie ungern sprechen. „Klar, vieles ist Scheiße", sagt Margarita. Der Platzkampf etwa und die Kunden, die es am liebsten ohne Kondom und so billig wie möglich machen wollten. Aber was bringe es, das immer wieder durchzukauen? Immerhin könne sie das Geld, das sie auf dem Straßenstrich verdient, gleich „in die Tasche" stecken. Anders als im Bordell oder in der Limburger Privatwohnung, in der sie gerade für einige Wochen gearbeitet hat, um der Kälte zu entgehen: „Da hast du 17 Kunden am Tag und musst am Ende 40 Prozent abgeben."
Auch Jessy erwähnt nur nebenbei, dass sie jede Nacht bis 6 Uhr morgens an der Straße stehen muss. Wie sie das bei der Kälte aushalte? Die junge Frau zuckt mit einem Lächeln die Schultern. „Muss eben gehen." Im nächsten Moment hält ein Auto. Jessy schnippt ihre Zigarette weg und eilt zum Wagen. Nach einem kurzen Gespräch am Fenster steigt sie zum „Kunden" ins Auto, das im nächsten Augenblick in die Nacht davonbraust. Jürgens und Paunova zucken nicht mal mit der Wimper. Zwar kennen sie viele Geschichten von gewalttätigen Freiern, aber sie sind nicht hier, um die Frauen von ihrem Job abzuhalten.
FIM bietet zwar auch Beratung für Prostituierte an, die aussteigen wollen. Doch in der Praxis kommt das eher selten vor. Nicht nur seien viele schon früh von Verwandten oder Partnern auf den Strich geschickt worden und hätten kaum eine andere Arbeit kennengelernt, erklärt Encarni Ramirez, die das hessenweite Streetwork-Projekt zu Armutsprostitution von FIM leitet.
Oft hätten sie auch aus rein ökonomischen Gründen kaum eine andere Wahl: „Sie kommen aus armen Regionen Bulgariens, viele ernähren mit der Prostitution ganze Familien in der Heimat."
In Margaritas Fall ist es etwas anders: Gerade hat sie in Bulgarien das Sorgerecht für ihr Kind zugesprochen bekommen und will es bald nach Deutschland holen. Mit dem Anschaffen wird sie in den nächsten Jahren wohl trotzdem nicht aufhören. Eine Bekannte habe ihr zwar einen Callcenter-Job angeboten, aber: „Das sind nur 400 Euro im Monat. Wie soll das gehen?" Auch Ramirez fragt: „Wohin sollen die Frauen aussteigen? Versuchen Sie mal, einen Job für jemanden in Ihrer Situation zu finden, von dem Sie sich und ihre Familie ernähren können."
Die Situation sei absurd: Die Frauen arbeiteten oft seit Jahren in Deutschland, bedienten unter härtesten Bedingungen die hohe Nachfrage nach käuflichem Sex, hätten hier aber keinerlei Ansprüche: „Sie sind praktisch gar nicht da." Die räumliche Distanz des Straßenstrichs zum Stadtzentrum verstärke die gesellschaftliche Außenseiterrolle noch.
Für die Stadt sei das bequem, glaubt Ramirez: „Aber sie hat eine Verantwortung für diese Frauen. Wir müssen uns der Armutsprostitution endlich annehmen und in kleinen Schritten darauf hinarbeiten, die Frauen zu stärken."
Die Namen aller Prostituierten sind geändert.