Es ist noch stockdunkel, als an einem kalten Novembermorgen mehrere Hundertschaften der Belgrader Polizei ein paar heruntergekommene Baracken hinter dem Busbahnhof der serbischen Hauptstadt umstellen. In den alten Lagerhallen schlafen rund 600 Geflüchtete. Die Polizisten tragen Kampfausrüstung.
Zivilbeamte dringen in die Hallen ein, in denen der Rauch unzähliger kleiner Feuer das Atmen schwer macht. Sie wecken die Männer, wollen sie mitnehmen und in offizielle Flüchtlingscamps bringen. Innerhalb von Minuten sind alle auf den Beinen, viele versuchen wegzurennen oder sich zu verstecken. Am Ende werden nur 109 Menschen in Busse verfrachtet, die ins Lager von Preševo an der mazedonischen Grenze fahren. Die Polizisten wenden keine Gewalt an, drohen nur, wiederzukommen. Bei den mehr als 1000 Übriggebliebenen geht die Angst um. „Wer weiß, ob wir das nächste Mal wieder entkommen können", sagt der 26-jährige Bilal aus Pakistan.
Dabei haben sich viele von ihnen noch bis vor kurzem bemüht, Plätze in einem der übers Land verteilten Aufnahmezentren zu bekommen, wurden aber abgewiesen, weil die meisten überfüllt sind. Rund 6400 Flüchtlinge halten sich laut des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) derzeit in Serbien auf, davon rund 5000 in offiziellen Camps. Die größten Chancen auf einen Platz haben Syrer, bevorzugt werden Familien. So sind vor allem allein reisende Afghanen und einige Pakistaner auf den Straßen der Hauptstadt gelandet - darunter Hunderte Minderjährige, die jüngsten elf, zwölf Jahre alt. Für die obdachlosen Flüchtlinge ist jeder Tag in Belgrad ein Kampf gegen Kälte, Regen, Hunger und Hoffnungslosigkeit.
Warum also steigen sie nicht freiwillig in die Busse nach Preševo? Einige junge Afghanen, die sich abends bei strömendem Regen auf dem nassen Boden eines Parkdecks ihr Nachtlager aus Kartons zurechtmachen, erklären, was für sie schlimmer wäre als das Elend auf der Straße: die Abschiebung. Es geht das Gerücht um, dass Serbien Massenabschiebungen nach Mazedonien und Bulgarien plant. Mohamad, ein 17-Jähriger, der unter seinem billigen Regencape fast verschwindet, erzählt, er habe eine Weile in einem Camp gelebt, nahe der ungarischen Grenze. Eines Tages seien er und andere abgeholt worden. Er schaffte es, sich abzusetzen, aber viele seiner Freunde seien weitergefahren worden - und zwar nicht ins Aufnahmelager von Preševo, sondern hinter die mazedonische Grenze. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigen, dass solche illegalen „Push-Backs" stattgefunden haben. In der serbischen Flüchtlingspolitik kündigt sich eine radikale Kehrtwende an.
Während Push-Backs und Repressionen gegen Flüchtlinge in Ungarn und Bulgarien an der Tagesordnung sind, hatte sich Serbien lange von den Abschottungsmethoden seiner Nachbarn distanziert. Als Ungarn und später Kroatien begannen, Grenzzäune hochzuziehen, versprach der serbische Ministerpräsident Aleksandar Vucic, sein Land werde niemals Zäune bauen. Stattdessen drang er auf eine europäische Lösung und kündigte an, der EU-Beitrittskandidat Serbien könne in einem gemeinsamen Verteilungssystems etwa 10 000 Menschen aufnehmen. Auch Medien und Zivilgesellschaft schienen offener zu sein als anderswo. Keine Horrormeldungen über kriminelle Migranten, keine großen Demonstrationen gegen Flüchtlingslager. Für seinen Kurs bekam Vucic Lob von EU-Vertretern.
Doch das war zu einer Zeit, in der zwar jeden Tag Tausende von Flüchtlingen in Serbien ankamen, aber nur die wenigsten länger als ein paar Tage im Land blieben. Wirklich schwierig wurde die Situation erst, als Deutschland und andere die Flüchtlingskrise für bewältigt erklärten. Seit dem EU-Türkei-Deal und den Grenzschließungen auf dem Balkan kommen zwar viel weniger Menschen nach Serbien - der UNHCR geht von rund 200 am Tag aus. Doch nur ein Bruchteil kann das Land auch wieder verlassen, vor allem, seit Ungarn im Juli ein weiteres Mal seine Grenzkontrollen verschärft hat. Die rund 6000 ungarischen Soldaten und Polizisten, die an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien im Einsatz sind, können seitdem noch einfacher illegal Eingereiste sofort abschieben - was laut Human Rights Watch gegen internationales Recht verstößt. Fast jeden Tag werden Flüchtlinge zurück nach Serbien gezwungen - von den offiziellen Grenzschützern und von selbst ernannten Flüchtlingsjägern, die auf Facebook ihre neuesten „Fänge" feiern. Eine Menschenjagd mit brutalen Methoden: Die meisten der Migranten in Belgrad haben blaue Flecken oder blutige Hundebisse vorzuweisen.
Serbien ist zum „Flaschenhals" geworden, formuliert Lissett, eine Mitarbeiterin von Refugee Aid Serbia (RAS), - da helfe alles Lob der EU nichts. Zumal in Serbien sehr genau registriert werde, dass Ungarn und Bulgarien für ihre Abschottung keine Konsequenzen tragen mussten. „Gerade jetzt, wo der Flüchtlingsdeal mit der Türkei vor dem Aus steht, sind Länder wie Deutschland doch froh, dass jemand die Drecksarbeit übernimmt", glaubt Aleks, ein junger Belgrader Politikwissenschaftler. Damit gehe ein gefährliches Signal nach Serbien. Der flüchtlingsfreundliche Kurs sei, so glaubt er, nur so lange aufrechterhalten worden, wie sich die Regierung davon einen Vorteil in den Beziehungen zur EU versprach. Viele progressive Serben haben ihrem Ministerpräsidenten seine humanitäre Haltung nie ganz abgenommen. Vucic war bis 2008 Mitglied der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei. Als Minister unter Miloševic drohte er Muslimen mit dem Tod. 20 Jahre später gilt er als geläutert, hat sich öffentlich für seine Fehler in der Vergangenheit entschuldigt, doch nicht alle sind überzeugt.
Hinzu kommt, dass die Migranten in Belgrad im Weg sind. Auf der riesigen Brache zwischen Bahnhof und Save-Ufer, auf der die Baracken stehen, soll die „Belgrade Waterfront" entstehen, ein neues Stadtviertel mit Luxusapartments und Serbiens größter Shopping-Mall. Das umstrittene Bauprojekt soll ein Aushängeschild werden für das neue, moderne Serbien. Viele alte Gebäude wurden schon abgerissen, die Baracken könnten als nächstes an der Reihe sein.
Solange die Freiwilligen täglich warme Mahlzeiten ausgaben, konnten sie dasUnd so ändert sich der Ton des Ministerpräsidenten. Sein Land dürfe nicht zum „Parkplatz für Afghanen" werden, sagte er im Juli, und ließ verlauten, nun doch den Bau eines Grenzzauns in Betracht zu ziehen. Im November sorgte ein offener Brief der Regierung für Entsetzen, in dem allen Hilfsorganisationen untersagt wurde, die obdachlosen Migranten mit Essen oder Kleidung zu unterstützen.
Die einzige Möglichkeit, das Land legal Richtung Norden zu verlassen, sind zwei „Transitzonen" an den Grenzübergängen Kelebija und Horgos. Dort lässt Ungarn einige wenige Menschen ins Land - zunächst 30 am Tag, seit einigen Wochen nur noch 20. Wer es einmal über die ungarische Grenze geschafft hat, ist Österreich und Deutschland ein Stückchen näher. Deswegen registrieren sich die meisten Neuankömmlinge in Serbien für das ungarische Asylkontingent und landen damit auf einer langen Warteliste.
In dem elenden kleinen Camp am Grenzübergang von Kelebija drängen sich windschiefe Zelte im Schatten des Stacheldrahtzauns. Journalisten und freiwillige Helfer haben keinen Zutritt. Auf dem verschlammten Boden spielen Kinder. Es sind hauptsächlich Familien, die hier ausharren. Wer männlich und allein ist, muss sich auf monatelanges Warten einstellen - und auch dann gibt es keine Garantie. Raouf, ein 21-jähriger Algerier, sitzt mit Freunden auf einer Bank und pustet Rauchringe in den grauen Himmel. Er zeigt auf den Jüngsten in der Gruppe, 16 Jahre alt: „Mein Freund stand schon weit oben auf der Liste. Aber vor ein paar Tagen war sein Name plötzlich verschwunden. Sie sagen, es habe einen Fehler gegeben." Viele der Wartenden an der Grenze berichten von solchen „Fehlern", die nach Raoufs Meinung keine sind: „Jemand hat sie bestochen. Das ist ein Business wie überall auf der Balkanroute." Angesichts der hoffnungslosen Lage beantragen immer mehr Menschen Asyl in Serbien - allein im November über 1000.
Echte Perspektiven haben sie nicht in Serbien, wo es nach über 20 Jahren nicht gelungen ist, selbst serbische Flüchtlinge aus den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre zu integrieren - viele von ihnen wohnen bis heute in einem Lager am Rande Belgrads.
Rund um den Bahnhof wächst die Not mit jedem Tag. Solange die Freiwilligen täglich warme Mahlzeiten ausgaben, konnten sie das Schlimmste verhindern. Jetzt, wo das verboten ist, weiß niemand, wie es weitergehen soll, vor allem, seit auch noch ein öffentlicher Trinkwasseranschluss abgestellt wurde. Helfer Miodrag von der lokalen Organisation Info Park macht sich große Sorgen: „Wir werden bald verhungernde Menschen auf den Straßen haben."
Bereits dreimal sind Hunderte Geflüchtete von Belgrad an die Grenzen zu Ungarn und Kroatien marschiert. Das erste Mal nannten sie es noch „March of Hope" (dt.: Marsch der Hoffnung), sie riefen „Thank you, Serbia". Beim vorerst letzten Protest Mitte November ist von dieser positiven Stimmung nichts mehr zu spüren. Auf die Warnung, der Marsch sei riskant, sagt ein Afghane: „Ich habe keine Angst. Was kann mir denn noch passieren? Selbst wenn sie auf mich schießen, ich habe nichts mehr zu verlieren."
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