Leicht verzweifelt hänge ich am oberen Ende eines drei, vielleicht vier Meter hohen Felsblocks. Meine Fingerkuppen krallen sich an eine kaum auszumachende Leiste im Stein, meine rechte Fußspitze passt gerade so in die unscheinbare Wölbung unterhalb meines linken Knies. "Du hast es fast geschafft!", höre ich meine Freunde von unten rufen. "Jetzt einfach noch das Bein durchdrücken und nach oben greifen." - "Oder mach den Wal, mach den Wal!"
Den Wal, den macht man in dieser Gegend eigentlich nicht. Wir befinden uns immerhin in Fontainebleau, dem bekanntesten Boulder-Gebiet der Welt. In den Wäldern rings um das gleichnamige Städtchen trainierten französische Alpinisten um 1900 für ihre Expeditionen und erfanden so nebenbei das Bouldern, Klettern ohne Seil in moderater Höhe. Ein Sport, bei dem es nicht nur um Kraft geht. Sondern auch um Balance, Geduld und eine gewisse Fantasie, in welche Pose man seinen Körper bringen könnte, um ein Problem, wie eine Route fachmännisch heißt, zu lösen. Und wer zumindest halbwegs bouldern kann, der robbt in Fontainebleau nicht ungelenk wie ein strandender Wal auf einen Felsblock; sondern steigt elegant und auf beiden Füßen nach oben aus.
Mein erster Bleau-Besuch ist inzwischen vier Jahre her. Seitdem ist das Pariser Naherholungsgebiet für mich das, was für andere der Wörthersee oder Sylt sind. Ich fahre jedes Jahr wieder hin, auch wenn ich nicht die ehrgeizigste Sportlerin bin. Eine Reise, die zu nächtlicher Stunde auf einem grauen Kölner Parkplatz beginnt; an vorbeiführt, bevor sich dort der morgendliche Berufsverkehr staut; bis wir schließlich rund eine Stunde später eine ländliche Gegend mit Blick auf endlose Getreidefelder erreichen.
Wir passieren Dörfer und Städtchen, meist Jahrhunderte alt, verwinkelte Straßen, mittelalterliche Kirchtürme und Landhäuser aus sandfarbenem Stein mit blumenübersäten Vorgärten. Nur ein paar Autominuten entfernt von diesen Dörfern beginnt der enorme Wald, der Bleau so populär gemacht hat - bei Boulderern, aber auch als Ausflugsziel für Wanderer und andere Nichtkletterer. Genau genommen sind es zwei Wälder: der Forêt de Fontainebleau und Les Trois Pignons - zusammen rund 25.000 Hektar mit Tausenden verstreuten, drei, vier oder fünf Meter hohen Felsblöcken, die die Bleau-Pioniere in Gebiete, Parcours, Routen und Schwierigkeitsgrade eingeteilt haben.
Damit sind wir zurück am Fels. Mich überkommt plötzlich ein Anflug von Höhenangst. Deswegen greife ich nicht einfach noch höher und mache auch nicht den Wal, sondern lasse mich lieber auf die dicke, gelbe Matratze fallen, die ich eben noch wie einen zu groß geratenen Rucksack in den Wald geschleppt habe. Dieses Crashpad bedeckt die Wurzeln und Steine am Boden, die mir einen weniger angenehmen Aufprall bescheren würden.
Fallen, Aufstehen und Weitermachen, das gehört bei einem Bouldertrip ohnehin dazu. Es gibt zwar auch Cracks, die Tausende Kilometer anreisen, um einen der berühmteren Bleau-Boulder perfekt durchzusteigen. Etwa eine enorme Welle aus Stein, auf die man nur gelangen kann, wenn man teilweise fast in der Horizontalen klettert. Aber die eigentliche Magie eines Bleau-Besuchs liegt jenseits von Leistung und überbordendem Ehrgeiz. Jeder, der buchstäblich loslassen möchte, ist hier genau richtig. Das Freiheitsgefühl stellt sich schon ein, sobald man einfach nur hineinmarschiert in den märchenhaften Wald aus alten Eichen, duftenden Kiefern und farnüberwucherten Lichtungen; durch ein Meer aus Sandsteinblöcken, die wie träge, schlafende Drachen im Schatten der Bäume ruhen. Tatsächlich sind bestimmte Felsen nach dem Tier benannt, das einst jemand in ihnen entdeckt haben will, "Éléphant" zum Beispiel. Oder das Wahrzeichen der Gegend, ein Boulder, der seiner Form wegen den Spitznamen "Hundekopf" hat. (...)
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