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Porträt Carson McCullers: Die letzte Sehnsucht

  • Carson McCullers fand im deutschsprachigen Raum nie die Beachtung, die sie verdient hätte. Hoffentlich ändert sich das zu ihrem 100. Geburtstag. 

Ihren 50. Geburtstag feierte Carson McCullers im New Yorker Plaza Hotel. Nach mehreren Schlaganfällen war ihre linke Hand gelähmt, seit einem Sturz vor drei Jahren konnte sie nicht mehr gehen. Vom Bett aus empfing sie Gratulanten und gab der New York Times ein Interview.

Sie war die Autorin von vier Romanen und zwei Stücken, von Erzählungen, Gedichten und Essays. John Huston hatte soeben ihren Roman Spiegelbild im goldnen Auge verfilmt und sie auf seinen Landsitz in Irland eingeladen.

Ihr Transport von ihrem Heimatdorf Nyack ins Plaza hatte auch als Test ihrer Reisefähigkeit gedient. Sie wagte den Flug und genoss bei Huston eine der glücklichsten Zeiten ihres Lebens. Wieder daheim, wollte sie ihr verkrüppeltes linkes Bein, das sie immer wieder schmerzte, amputieren lassen und möglichst bald nach Irland zurückkehren. Sie sehnte sich nach einem Neuanfang, mit mehr Beweglichkeit und weniger Schmerzen.

Etwas Besonderes

Am 19. Februar 1917 wurde sie als Lula Carson Smith geboren, in der Kleinstadt Columbus, US-Bundesstaat Georgia. Ihr Vater, ein Juwelier und Uhrmacher, und ihre Mutter hielten das älteste ihrer drei Kinder von Anfang an für etwas Besonderes. Und das war sie auch: Sie spielte besonders gut Klavier und wurde besonders oft krank.

Ihre lebenslange Heimsuchung durch Schlaganfälle soll auf ein frühes rheumatisches Fieber zurückgehen, das ihr Herz schädigte. Mit siebzehn zog sie nach New York. Die Legende besagt, sie habe an einer teuren Musikschule Klavier studieren wollen, durch ein Missgeschick aber ihr Schulgeld verloren und daher stattdessen Schreibkurse an Universitäten belegt. Vermutlich wollte sie einfach lieber Schriftstellerin werden als Konzertpianistin. 1937 heiratete sie Reeves McCullers.

Ihre Liebe zu diesem damals 24-jährigen Ex-Soldaten, der sie schlug, bestahl und betrog, hatte etwas Selbstzerstörerisches. Als er mit gefälschten Schecks ihr Konto plünderte, ließ sie sich nach vier Jahren Ehe zwar scheiden, heiratete ihn nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg aber wieder. 1953 versuchte er, sie zum gemeinsamen Selbstmord zu überreden. Carson floh aus Frankreich, wo sie zu der Zeit lebten, in die USA, und Reeves brachte sich ohne sie um.

Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit

In ihrem Debütroman Das Herz ist ein einsamer Jäger (1940) spürt man permanent und fulminant die Ambition einer Anfängerin, sich mit Anfängerkram gar nicht erst aufzuhalten. Alle Hauptmotive ihres Gesamtwerks sind darin bereits entwickelt. Die typische McCullers-Figur leidet an Einsamkeit. Um die zu durchbrechen, verliebt sie sich, und zwar grundsätzlich in eine Person, die ihre Liebe nicht erwidert, ja oft nicht einmal bemerkt.

Das ist allerdings weniger tragisch, als es klingt. Denn McCullers beschreibt Liebe als ein Gefühl, das Erwiderung nicht braucht, um die Liebende zu einem glücklicheren und auch sozialeren Wesen zu machen: In ihrem Glück, einen Menschen zu lieben, liebt sie letztlich alle Menschen, die Natur, die Welt, das ganze Leben. In mancher Figur brennt auch eine Sehnsucht nach Verwirklichung hochfliegender Pläne oder einfach nach Flucht aus ihrer öden heißen Heimatstadt in ein entferntes Land, wo immer Schnee liegt.

Mit geradezu zärtlicher Einfühlung schildert McCullers in ihrem Erstling Sehnsucht und Einsamkeit, Lieben und Scheitern eines ganzen Ensembles solcher Charaktere. Da ist der Vagabund Jake, der die Arbeiter aus dem kapitalistischen Joch befreien will, aber zum zwanghaft monologisierenden Säufer verkommt. Der schwarze Arzt Copeland, dessen Engagement gegen Rassismus nicht einmal bei seiner Familie auf fruchtbaren Boden fällt. Der verwitwete Gastwirt Biff, dem in seiner Ehe die Potenz abhanden kam und der sich in die adoleszente Mick verliebt. Und eben diese Mick, die, das Herz voll Fernweh und Musik, von einer Karriere als Komponistin träumt.

Sie verliebt sich ihrerseits in den taubstummen John Singer, dessen Nähe auch alle anderen Figuren suchen. Man weiß nie, ob er korrekt von den Lippen abliest, und erhält von ihm, mit Bleistift und Papier, nur selten eine Antwort. Gerade deshalb können in ihm alle sehen, was sie sehen möchten, und fühlen sich bei ihm wohl und verstanden. Von der Wärme in Das Herz ist ein einsamer Jäger ist im Nachfolgeroman Spiegelbild im goldnen Auge (1941) nicht viel übrig.

Diesmal schlüpft McCullers nicht mitfühlend in ihre Geschöpfe, sondern beobachtet sie distanziert anhand einer makellos konstruierten Versuchsanordnung: In einer friedlichen Garnison verliebt sich ein Hauptmann in einen gewöhnlichen Soldaten, der wiederum die Ehefrau des Hauptmanns begehrt. Freilich bemerkt keine der geliebten Personen die ihr entgegengebrachten Gefühle, die schließlich in einem Mord eskalieren.

Am Ende kein Neuanfang

Nach der märchenhaften Novelle Die Ballade vom traurigen Café (1943) fand McCullers mit dem Roman Frankie (1946) zur Empathie und Vitalität ihres Debüts zurück. Das Motiv der unerwiderten Liebe wird darin originell variiert: Das Mädchen Frankie verliebt sich in ein Brautpaar. Ihr Bruder kommt vom Kriegsdienst in Alaska heim, um in einer nahen Ortschaft zu heiraten.

Mit pubertärem Pathos schwört Frankie, nach der Hochzeit nie mehr in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Sie will dem Brautpaar folgen, wohin es auch geht. Die Sehnsucht hinter diesem scheinbar abwegigen Wunsch ist alles andere als abwegig: Frankie empfindet ihre Mitmenschen als einander zugehörig, als ein "Wir", sich selbst hingegen als vereinzeltes "Ich", und glaubt, in dem glücklichen Paar ihr eigenes "Wir" endlich gefunden zu haben.

Unerfüllt wie die Sehnsucht der zwölfjährigen Frankie blieb auch jene der 50-jährigen Carson McCullers. Zum geplanten Neuanfang durch eine Beinamputation kam es nicht mehr. Ein weiterer Schlaganfall stürzte sie in ein wochenlanges Koma, in dem sie am 29. September 1967 starb.

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