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Porträt David Lynch: Der Mann hinter dem Vorhang

  • David Lynch ist kein großer Denker, aber ein großer Filmemacher. Grund genug, ihn zum 70. Geburtstag zu würdigen.

Sonntag, 11. November 2007. Das Wiener Gartenbaukino ist voll. Eine Veranstaltung der Viennale. Auf der Bühne spricht David Lynch. Mit leicht schnarrender Stimme und der immer gleichen Geste, wenn er nach einem Wort sucht: Eine Art Klavierspielen in der Luft, mit den Fingern seiner rechten Hand. Wer sich aber neue Erkenntnisse über sein soeben gezeigtes Meisterwerk Mulholland Drive erhofft, wird enttäuscht. Lynch ist nicht hier, um seine Filme zu bewerben, sondern die „Transzendentale Meditation" nach der Lehre eines indischen Gurus. Was auch immer er gefragt wird, er kommt hartnäckig wieder auf deren angeblich kreativitätsfördernden Effekt zurück.

Warum ist man überhaupt enttäuscht? Ist das nicht eigentlich typisch Lynch? Verspricht die Marke, zu der sein Name mittlerweile geworden ist, nicht genau das: Ein Ereignis - ob Film, Fernsehserie, Gemälde, Musikstück oder eben Publikumsgespräch - das irritiert? Das unsere Erwartungen verschmitzt über den Haufen wirft, um uns verblüfft und bereichert oder auch konfus und verärgert zurückzulassen? Lynch hat seine Fans einmal mehr in die Falle gelockt: Unter einem spannungserregenden Aufhänger (Lynch live) bot er nichts als eine Banalität (Werbung für eine Sekte).

Und inszenierte damit diese Veranstaltung nach dem Konzept seiner Filme, überzeugen doch auch sie weniger durch ihren Inhalt als durch dessen Verpackung. Lynch ist keine Leuchte des Was, aber ein Genie des Wie. Er hat uns nichts zu sagen, was wir nicht schon wüssten: Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr (Eraserhead). Wahre Schönheit kommt von innen (The Elephant Man). Hinter jedem Idyll verbirgt sich ein Abgrund (Blue Velvet). Liebe überwindet alles (Wild at Heart). Väter sollten die Finger von ihren Töchtern lassen (Twin Peaks). Ein Mörder kann an seiner Schuld zerbrechen (Eraserhead, Twin Peaks, Lost Highway, Mulholland Drive).

In seinen Filmen tischt er solche Gemeinplätze freilich nicht unverhohlen auf. Dort hüllt er sie in Szenen anrührender Menschlichkeit, skurriler Komik oder geradezu kitschiger Schönheit, die er mit Momenten abstoßender Hässlichkeit und Brutalität kontrastiert. Er flicht sie in ein Gewirr aus vermeintlich unlösbaren Rätseln, mysteriösen Symbolen und Anspielungen auf die Kino-, Literatur- und Kunstgeschichte. Er stürzt uns in ein dermaßen suggestives, vergnügliches, beängstigendes, akribisch orchestriertes Gewitter aus Bildern, Geräuschen, Musikeffekten und exzellenten Schauspielerleistungen, dass wir zunächst gar keine Chance haben, deren Gehalt zu hinterfragen.

Von der Leinwand zur Leinwand

David Lynchs erste Liebe war die Malerei. Er wurde am 20. Jänner 1946 als ältestes von drei Geschwistern in Missoula, Montana, geboren. Sein Vater war Wissenschaftler beim Department of Agriculture, weshalb die Familie oft umzog. Mit 18 begann er eine Kunstausbildung an der Boston Museum School, die er allerdings nach einem Jahr wieder abbrach. Mit einem Freund reiste er nach Salzburg, um bei Oskar Kokoschka Malerei zu studieren. Aber der hatte die von ihm gegründete Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst im Jahr davor verlassen. Also kehrten die beiden statt nach den geplanten drei Jahren nach nur 15 Tagen in die USA zurück. 1967 heiratete Lynch und versuchte sich an der Pennsylvania Academy of Fine Arts erstmals am bewegten Bild. Six Men Getting Sick ist noch ein Hybrid aus Kino und Bildender Kunst, eine auf eine Skulptur projizierte Animation mit Klangeffekt. Weitere Kurzfilme folgten und ebneten den Weg für einen ersten Langfilm.

Eraserhead (1977), mit minimalem Budget in fünfjähriger Arbeit entstanden, wurde gleich zu Lynchs wohl originellstem Wurf. In detailverliebt komponierten Schwarzweißbildern erzählt er von Henry (Jack Nance), der aus seinem Junggesellendasein in ein Eheleben samt Baby gestoßen wird und als wahnsinniger Mörder endet. Dieses an sich banale Drama meißelt Lynch allein durch seine Interpretation zu einem cineastischen Meilenstein. Frei nach Kafka verzerrt er das Alltägliche ins Groteske und das Normale zum Horror. So fängt das Backhendl, das Henry bei einem Essen anschneiden soll, zu seinem Schrecken plötzlich an zu strampeln. So erlebt er das Baby, das ihm das Leben zur Hölle macht, als ekelerregendes, deformiertes Monstrum. Und die Sehnsucht nach seiner verlorenen Freiheit als tanzende Blondine, die hinter dem Heizkörper wohnt.

Eraserhead verhalf Lynch zum Auftragsprojekt The Elephant Man (1980): Ein auf billige Rührung spekulierendes Außenseitermelodram, das ihn mit seinen acht Oscarnominierungen zum gefragten Regisseur beförderte. Doch auf den kometenhaften Aufstieg folgte ein meteoritenhafter Fall. Das gigantomanisch aufgeblähte Fantasy-Machwerk Dune (1984) zerplatzte zu einem künstlerischen und finanziellen Desaster.

Mit Blue Velvet (1986) gelang es David Lynch, seinen Ruf wiederherzustellen. Darin stolpert der junge Jeffrey (Kyle MacLachlan), getrieben von einem Bedürfnis nach Gefahr und Geheimnis, in eine Intrige aus sexueller Perversion, Gewalt und Mord. Und muss erkennen, dass derart Abgründiges nicht nur hinter den schmucken Fassaden seiner Heimatstadt lauert, sondern auch in ihm selbst. In der Tradition eines Moralstücks stellt Lynch seinen Helden in eine Konstellation archetypischer Figuren. Jeffrey verliebt sich zwar in die brave blonde Schülerin Sandy (Laura Dern, die Madonna), kann aber auch der dunklen Nachtclubsängerin Dorothy (Isabella Rossellini, die Hure) nicht widerstehen. Und bekämpft gemeinsam mit Sandys Vater, einem Polizisten (George Dickerson, der Gute), den kriminellen, sich an einem Gas berauschenden Fetischisten und Sadomasochisten Frank (Dennis Hopper, der Böse oder wie ein ehemaliger Pfadfinder ihn sich vorstellt).

Das Böse in uns

Dieser Ansatz ist bezeichnend. Denn so progressiv Lynchs formale Ideen sein mögen, so reaktionär ist sein Weltbild. Das Universum des David Lynch ist ein Schlachtfeld, auf dem die Kräfte des Lichts gegen die Kräfte der Finsternis um die Seelen seiner Hauptfiguren streiten. Exemplarisch zeigt sich dieser Manichäismus in der Fernsehserie Twin Peaks (1990-1991). Hier werden „das Gute" und „das Böse" nicht einmal mehr von Menschen repräsentiert, sondern treten gleich als übernatürliche Wesen auf.

Twin Peaks brachte Lynch internationalen Ruhm, seine Beziehung mit Isabella Rossellini einen Platz in den Klatschspalten und Wild at Heart (1990) die Goldene Palme beim Festival in Cannes. Dieses exzessiv brutale Roadmovie spickte er mit Zitaten aus einem seiner Lieblingsfilme, The Wizard of Oz (1939): Da schlägt Laura Dern verzweifelt ihre roten Schuhe aneinander, reitet Diane Ladd als „Wicked Witch" auf einem Besen und schwebt Sheryl Lee als Gute Fee zu Nicolas Cage herab. Lynchs Höhenflug hingegen war schon wieder vorbei: Seine neue TV-Serie On the Air (1992) wurde nach nur drei Folgen abgesetzt, und Twin Peaks: Fire walk with me (1992), das Kino-Prequel zur Serie, enttäuschte Kritiker wie Fans.

Mehrere Projekte scheiterten an fehlendem Budget, bevor Lynch eines seiner faszinierendsten Werke verwirklichen konnte: Lost Highway (1997) zwingt uns in den Kopf des Saxofonisten Fred (Bill Pullman), den seine sexuellen Minderwertigkeitsgefühle zum Mord und seine Schuldgefühle in eine Psychose treiben. „Das Böse" liefert hier als diabolisch lachender „Mystery Man" (Robert Blake) einen unvergesslichen Auftritt. Während er auf einer Party vor Fred steht, hebt er zugleich in dessen Haus das Telefon ab. „You invited me", erklärt er. „It is not my custom to go where I'm not wanted." Fred hat „das Böse" schon in seinen „Innenraum" gelassen. In derselben Nacht wird er seine Frau nicht nur ermorden, sondern regelrecht in Stücke reißen.

The Straight Story (1999), nach einem Drehbuch seiner damaligen Lebensgefährtin, ragt wie ein Fremdkörper aus Lynchs Filmografie: Der 73-jährige Alvin Straight (Richard Farnsworth) reist hunderte Kilometer auf einem Rasenmäher, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen.

Mulholland Drive (2001) war ursprünglich als TV-Serie geplant. Aber Lynchs Pilotfilm wurde von den Auftraggebern abgelehnt. Er hatte das Projekt schon abgeschrieben, als die französische Fernsehanstalt Canal Plus ihm anbot, den Piloten mit zusätzlichen Szenen zum Kinofilm zu erweitern. Ordnet man dessen zunächst verwirrende Einzelteile zu einer chronologischen Handlung, ergeben sie eine Variation von Lost Highway: Eine an Hollywood zerbrochene Kleindarstellerin (Naomi Watts) lässt aus Eifersucht ihre Geliebte (Laura Elena Harring) ermorden. In einem Traum durchlebt sie ihre Liebesgeschichte erneut, allerdings beschönigt zu einem Film-noir-artigen Romantikthriller. Nach dem Aufwachen steigern ihre Schuldgefühle sich zu Halluzinationen, die sie in den Selbstmord hetzen.

Lynchs bislang letzter Film wirkt wie ein Abschied vom Kino. In rauer Videoästhetik versammelt Inland Empire (2006) nochmal all die Motive, Methoden und Manierismen, mit denen er sich seinen Platz in der Filmgeschichte erobert hat. Radikaler denn je stößt er uns in ein perfide konstruiertes Labyrinth, wo die Grenzen zwischen Wachzustand und Traum, Realität und Imagination, Authentizität und Inszenierung verschwimmen. Und sich auffallend viele Darsteller aus früheren Produktionen tummeln, darunter Laura Dern, Justin Theroux, Harry Dean Stanton, Diane Ladd, Laura Elena Harring und Naomi Watts (als Stimme eines Hasen).

In The Wizard of Oz präsentiert sich der titelgebende Zauberer als riesiges Gesicht mit Donnerstimme über einem Spektakel aus Feuer und Rauch. Aber in Wahrheit ist er gar kein Zauberer, lediglich ein unscheinbarer alter Mann, der sich hinter einem Vorhang versteckt. Sein Ehrfurcht gebietender Auftritt ist nur eine Show, die er mit ein paar technischen Tricks inszeniert. Wie es aussieht, bringt David Lynch 2017 eine Fortsetzung von Twin Peaks ins Fernsehen. Falls es tatsächlich dazu kommt, sollten wir uns vielleicht selbst einen Gefallen tun: Schauen wir nicht hinter den Vorhang. Genießen wir einfach die Show.

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