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Dr. Miami: Wie wird man als Chirurg zu einem Star für Millennials? Indem man seine OPs bei Snapchat streamt

Boob Job live aus dem OP-Saal: Schönheitschirurg Michael Salzhauer erreicht Tag für Tag auf Snapchat ein Millionenpublikum. Unseriös? Seine Patienten stört es nicht. Die stehen Schlange.

Michael Salzhauer kommt hinter seinen Schreibtisch im Sprechzimmer gewischt: Kurz vor Mittag, und um zwölf Uhr werden wie neuerdings jeden Tag die Walk-ins in die Praxis drängeln, Leute, die sich auf gut Glück Stunden vorher unten vorm Haus in einem Vorort von Miami aufgereiht haben. Sie hoffen, dass der Mann sie heute zwischen den Terminpatienten drannehmen wird, dass Salzhauer ihre Hintern betrachtet und sie eventuell seiner Spezialität unterzieht: dem Brazilian Butt Lift, der jeden Speckarsch beachvolleyballwürdig macht. Assistentin Keka Olan steht in der Tür und snappt noch schnell ein Foto von ihm, tippt auf die Uhr am Handgelenk, bevor sie rausgeht. Dr. Miami stellt sich einen Wecker für das Skype-Interview.

Doktor wer? Doch, doch: Dr. Miami. Eben der Schönheitschirurg, der via Snapchat keine Sekunde seines OP- und Praxisalltags ungefilmt lässt, der ein eigenes Plattenlabel hat, weil ihm Rapper immer wieder Tracks geschickt haben, auf dass er sie bei seinen OPs im Hintergrund laufen lasse, jener Chirurg, bei dem sich Patienten auf monatelange Wartezeiten einstellen, allein um am Ende nicht nur unter dem Messer, sondern vor allem auch unter zwei gierig streamenden Kameras zu liegen. Salzhauer, Mitte 40 und Florida-fit, sagt: „Manchmal sitzen unten in der Lobby bis zu 20 Fans aus der ganzen Welt. Nur um Hi zu sagen und ein Foto zu machen." Aus dem Wartezimmer rollen tiefer Synthbass und Drumpad, jemand rappt begeistert über seinen neuen Bugatti. Salzhauer: „Unter den Laufpatienten herrscht hier oft eher Club-Atmosphäre. Das alles ist so meilenweit von dem entfernt, was ein Doktor und seine Praxis normalerweise darstellen."

Noch mal: Doktor wer? Kurz: Salzhauer guckt als Kind die Kriegsserie „Mash", bekommt den Eindruck, dass Ärzte vor allem lustige Typen sind, die nebenbei Leben retten. Als er dann 18 ist, begleitet er seine Frau zu einem Chirurgen in Manhattan, der ihr eine große Narbe vertuschen soll. „Das war 1991, lange vor dem Internet. Im Wartezimmer lagen Vorher-nachher-Bilder von Patienten aus. Ich hatte solche Bilder noch nie gesehen. Für mich war Schönheitschirurgie pure Magie."

Erfolgreich aus Trotz

Salzhauer schreibt sich für den Medizinstudiengang ein, spezialisiert sich auf plastische Chirurgie. Es kursieren Gerüchte, nach denen er ein Dahergelaufener mit Fernuni-Diplom an der Wand ist, aber davon will er nichts wissen: „Ich habe zeitweise die Chirurgie am Miami Hospital geleitet, bevor ich mich selbstständig gemacht habe."

Es stört ihn, dass die Presse plastische Chirurgie fast nur negativ betrachtet: „Ich stehe da Tag für Tag im OP und helfe Menschen, dass sie sich besser fühlen oder wieder Freude am Leben haben. Wahrgenommen werden aber nur Eingriffe bei alternden Stars, mit denen sie sich in wirr aussehende Freaks verwandeln." Salzhauer schreibt 2008 ein Kinderbuch, „My Beautiful Mommy". Grund: Der Großteil seiner Patienten waren damals junge Mütter, die den Tummy Tuck verlangten, einen Eingriff, der den Bauch nach der Geburt wieder flach machen soll. „Die Kinder assoziierten mit einem Arzt oft Krankheit und Tod. Sie sehen ihre gesunden Mütter in meine Praxis gehen und dann geschafft und mit Verbänden rauskommen. Ich wollte ihnen die Angst nehmen und die Dinge erklären." Salzhauer macht die Rechnung ohne das Internet, das in seinem Werk ein chirurgisches Propagandawerk erkennt, mit dem man Kinder indoktriniert. Der Shitstorm ist gewaltig. Aber das Internet wiederum hat die Rechnung ohne Salzhauer gemacht: „Ich wusste danach, dass ich noch weniger auf die öffentliche Meinung geben sollte, noch viel mehr meine Arbeit sichtbar machen müsste." Salzhauer frankensteint aus Trotz die Figur des Hip-Hop hörenden, Sportwagen fahrenden, dauerjugendlichen Dr. Miami.

Erst versucht er es ganz behutsam auf Youtube, wo er in kurzen Videos die gesamte Ärzteschaft auf die Schippe nimmt: das Väterchenhafte arrivierter Doktoren, das bewusst professorale Gehabe, das ihm antiquiert und albern vorkommt. „Das sind Rollen, die heute immer noch zuhauf eingenommen werden und die vor allem Distanz zum Patienten aufbauen. Meiner Erfahrung nach absolut kontraproduktiv." Viele der Clips gehen viral, Salzhauer fängt an, weitere Plattformen erst mit Fotos, dann mit Videos aus seinem Alltag zu füllen.

Vor zwei Jahren erreicht sein Instagram-Account 90 000 Follower. Für jemanden, der nicht singt und über 25 Jahre alt ist, eine beachtliche Zahl. Bis eines Morgens der Account gelöscht war. Alles weg. Man mag sich gar nicht ausrechnen, gegen wie viele Nutzerrichtlinien Salzhauer mit seinen unbedeckten, aufgeschnittenen Körpern verstoßen hat. Seine Tochter macht ihn auf Snapchat aufmerksam. „Etwa diese Sexting-App?", fragt er. Am Abend erzählt er ihr, dass sie 2 000 Views hatten. „Sie flippte aus, meinte: ‚Dad, das ist viel!'" Mittlerweile erreicht er bis zu eine Million Zuschauer am Tag, jeder einzelne Snap wird bis zu 110 Millionen Mal angeschaut.

Aber: Was sind das für Patienten, die sich da filmen lassen? Anfangs vor allem Reality-TV- und C-Prominenz, die im dauerstreamenden Doktor eine verwandte Seele erkannt haben. Zumindest aber einen, der alles daransetzen wird, dass er vor laufender Kamera ja nur keinen Scheiß baut und zuverlässig arbeitet. Und das Versprechen, mit seiner Nasenverschönerung irgendwie an Pop teilzuhaben, zieht Menschen magisch an: Derzeit beträgt die Wartezeit 18 Monate.

Seine Tochter, jetzt 17, nutze Social Media fast gar nicht mehr, „seit ich dort ein Star bin", lacht Salzhauer. Eine Existenz auf Snapchat macht sich bemerkbar: Snaps sind nicht länger als zehn Sekunden, und so redet Salzhauer auch - in kleinen, kompakten Schüben, bevor er sich dann sammelt, um wieder einen Infoschwall loszulassen. So erzählt er, dass das Fernsehen längst eine Show vorbereitet, dass er gerade noch nachdenkt, wie er dafür Künstler von seinem Musiklabel Surg Records mit vor die Kamera holen kann. Er bekommt nach wie vor Woche für Woche Hunderte CD-Einsendungen, eine der beiden fest angestellten Vollzeit-Snapchatterinnen betreibt mittlerweile nebenbei das Künstlermanagement. Das alles ist eine Geschichte, die man sich so nur ganz schlecht ausdenken kann. „Ich weiß", sagt Salzhauer schulterzuckend. „Ich kann es ja selber auch nicht fassen." Wie die Sache, als er Anfang des Jahres für die Shorty Awards nominiert wurde, eine Art Oscars für Kurzfilmer. Dr. Miami, Familienmensch, ist dort mit Frau und seinen fünf Kindern über den roten Teppich geschlappt, ist am Ende gegen Snapchat-Gott DJ Khaled leer ausgegangen. „Die Reise nach New York war nett", sagt er.

Hip-Hop-krates

Andere Chirurgen fragen an, wie sie Social Media für sich nutzen können, verstehen nicht, dass sie den wichtigsten Trick nicht nachmachen können: „Ich war der Erste. Der Erste, der die Grenzen völlig abgebaut und Operationen aufs Smartphone gebracht hat." Hinter ihm werden Palmen im Innenhof des Gebäudes von Windstößen durchgerüttelt, der Himmel über dem Atlantik grautürkis, es sieht alles nach einem mächtigen Sommerregen aus. Salzhauer gähnt, dabei hat er noch den Arbeitstag vor sich.

Wie der losgeht, kann man unmittelbar danach bei Snapchat verfolgen: Dr. Miami steht in der Mitte des Warteraums und verliest wie jeden Mittag den „Pledge to Plastic Surgery", den er sich ausgedacht hat, seine Bekundung zu Schönheit und Makellosigkeit und auch ein bisschen oldschool Hippokrates-Menschenhelfen: „I hereby pledge my allegiance to plastic surgery", beginnt er. „We hereby pledge ...", folgen ihm die Patienten, jeder mittlerweile aufgestanden, die Hand fest aufs Herz gepresst. Im Hintergrund filmt Assistentin Olan alles aus einer anderen Perspektive für die Videozusammenfassung am Ende des Tages. Im Nebenraum klingeln Telefone, klingeln natürlich vergeblich, alle Termine sind längst vergeben.

Der Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 05/2016 der Business Punk. Titelgeschichte: Wie Siri-Erfinder Dag Kittlaus mit dem Sprachassistenten "Viv" neue Standards setzen will. Außerdem unser Dossier AI, Ryanair-CEO Michael O'Leary und viele weitere Beiträge. Mehr Infos hier.
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