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Wie ein Londoner mit Bingo den Hype des Jahres losgetreten hat

Freitagabend in Clapham, heißer Hochsommer, 700 Menschen stehen vor dem Grand Theatre. Früher Shakespeare, jetzt regelmäßig Veranstaltungsort für Rebel Bingo, den heißesten Scheiß im an heißem Scheiß nicht gerade armen Dauercool-Bezirk Clapham. Die Sonne geht unter, langsam, aber sicher bahnt sich die Menge den Weg in das alte Theater.

Drinnen ist man noch in der Last-Minute-Vorbereitung für die Show, die laut Zeitplan schon längst laufen sollte. Auf der Bühne probt der Moderator mit den Tänzerinnen das Timing für Pointen. Das Scheinwerferlicht wird koordiniert. Mittendrin ein Typ, der ganz besonders rennt und schwitzt: Ally Wolf, Mittdreißiger, Ur-Londoner, Erfinder von Rebel Bingo. Drahtig und hager. Dünnes Haar. Kurze Hose. Nichtssagendes T-Shirt. Er trägt Kabel durch den Zuschauerraum und klebt auf der Bühne Positionsmarker ab, ein Roadie bei seiner eigenen Show, bei der gerade gar nichts klappt: Der eigentliche Moderator ist krank, seine Vertretung im Urlaub. Wolf probt mit dem Ersatz-Ersatz geduldig Intonation und Lautstärke, Pointen und Bewegung, irgendwann hat der Moderator es raus: „Let's play Rrrrrrrebel Bingo!", rollt er dramatisch ins Mikro. Wolf nickt nachdenklich.

Man muss wissen, dass Bingo im Vereinigten Königreich unter besonderem Schutz steht. Alte Menschen, aber auch solche, die schon früh zu Tradition und auch Bequemlichkeit neigen, sind große Verfechter des entspannten Zahlenziehens, das in der Regel gemütlich im Sitzen und in angenehm klimatisierten Räumen stattfindet. Die Zahlen werden dabei langsam präsentiert und laut genug ausgerufen, damit sie auch von Teilnehmern verstanden werden, die es mit dem Hören nicht mehr so haben. Über den korrekten Ablauf wacht penibel die Bingo Association. Erwartbar, dass die dem Rebel-Bingo-Irrsinn skeptisch gegenübersteht und man sich dort schon mehrmals genötigt sah, den Staub aus den Falten zu klopfen und heiser eine Warnung in Richtung von Veranstalter Wolf zu keuchen.

Der hat sich das Konzept für sein Anarcho-Bingo im Jahr 2009 mit zwei Kumpels, von denen nur die Vornamen Freddie und James überliefert sind, ausgedacht. Seitdem ist jede Veranstaltung ausverkauft. Damals haben die drei nach einer Comedyshow im Gemeinschaftssaal einer Londoner Kirche Bingokugeln der regulären Alt-Oma-Veranstaltung vom Vorabend entdeckt. Nach ein bisschen Rumhampeln und Improvisieren mit eigenen Regeln holte man noch zwei Burlesque-Tänzerinnen ins Boot, die die Nummern zogen und die satten Hintern kreisen ließen - Rebel Bingo war geboren.

Hochleistungshedonismus

Mittlerweile hat Wolf sein Konzept in die USA gebracht. Außerdem haben ihm Eventfirmen aus den bingoaffinen Nationen Portugal und Spanien das Programm abgekauft, das ehrwürdige Glastonbury Festival hat einen Slot für eine ordentliche Partie Rebel Bingo freigeschaufelt - „trotzdem", sagt Wolf, „ist es jedes Mal ein Kampf". Eine Aushilfe hat eine Frage an ihn, nur zwei Minuten? Wolf dreht sich um, Augen weit aufgerissen: „Zwei Minuten? Hab ich nicht", giftet er und weist Studentinnen ein, die am Eingang Stifte und Ankreuzscheine ausgeben, während die Fans schon im Vorraum des Grand lümmeln. Dann verschwindet Wolf auf den staubigen Balkon des Theaters, um von dort aus seine Show zu steuern, eine Show, bei der es nichts richtig zu gewinnen gibt und man als Teilnehmer vor allem davon ausgehen muss, sich vor allen anderen zum Affen zu machen.

In Clapham hat Wolf den passenden Ort für seinen Turbo-Hedonismus gefunden: Anthea, Mitte 20, wie ihre Eltern erfolgreich in der City, die gerne 10 Pfund für ein Glas Wodka-Red-Bull ausgibt und „einfach was Cooles vor dem richtigen Weggehen" haben will. „Beim Rebel Bingo kann man angenehm mit Freunden entspannen." Man sieht Leute vor der Veranstaltung im Saal ganz unironisch zu Nullerjahre-Soulhop von Aaliyah, Estelle und Mary J. Blige abgehen. „Paaaarty big!", ruft der Moderator von der Bühne, und das Bingo beginnt. Von oben rieseln plötzlich geschätzt zweitausend Kilo Konfetti. Brian, ein rotgesichtiger, dicklicher Typ mit Champagnerglas in der Faust, blickt zur Decke, dreht sich um die eigene Achse und grinst versonnen.

Sachpreise? „Haha!"

Wolf hat Rebel-Bingo-Fans mit brutaler Leidenschaft rangezüchtet, die seit Jahren zu jeder verdammten Show kommen, auch außerhalb Londons, Belieber sind nichts dagegen. Bingo: plötzlich wieder sehr, sehr cool. Der Moderator hält kurz die Luft an, dann ruft er: „It's not a game anymore - it's a motherrrrrfucking revolution!" Der mittlerweile zum Bersten gefüllte Saal explodiert. Draußen müssen Gäste abgewiesen werden, was Wolf freut: „Wir wollen immer relevant bleiben. Das geht am besten auf diese Weise." Die Show beginnt, und alles, was man über Bingo zu wissen meint, ist natürlich falsch. Welches Bingo hat große, sich hektisch drehende Discokugeln? Wo ziehen halbnackte, gefährlich tätowierte Dobermann-Halterinnen in fürchterlich engen Jogginghosen die Kugeln und jonglieren sie, während sie twerken? Bei welchem Bingo werden Kugeln zurückgeworfen mit der Begründung, die Nummer darauf sei „nicht geil genug"? Das hier, versteht man schnell, ist großer, lauter, traumhafter Dada-Eskapismus - Eskapismus, der Wolf dann und wann Ärger einbringt.

Die eingangs erwähnte Bingo Association hat sich schon mehrmals zu Wort gemeldet und war überhaupt nicht amused: Betrug! Wolf sagt: „Aber nicht, weil wir hier so eine Unsinnsshow abziehen. Sondern, weil wir anfangs keine richtigen Gewinne hatten, die man am Ende mit nach Hause nehmen kann." Seitdem gibt es Zeug wie zwei ultrahässliche Liegestühle oder 100 Dosen Cidre zu gewinnen, eben das, was ein Sponsor gerade so im Lager rumliegen hat. „Manchmal kaufen wir auch was, das wir dann am Ende rausgeben", sagt Wolf. Sein ursprünglicher Verzicht auf Gewinne war natürlich dem intuitiven Verständnis für seine Zielgruppe geschuldet: Der Nachwuchs im Publikum hat sowieso schon alles.

Wolf möchte mit seinem Freitagabendklassiker dem gemeinen Briten gar nicht das Herz zertreten. Wer in London bestehen will, muss halt ein bisschen lauter sein als die Konkurrenz, ein bisschen mehr edgy, und wenn man 20-Jährigen mit der Aussicht auf Bad-Taste-Ästhetik und Trash kommt, hat man in Post-Industrienationen in der Regel ganz gute Karten. Tenor: Ist ja alles nicht so ernst, und die unklug getrunkenen Wodka-Red-Bull werden ohnehin die meisten jener Erinnerungen aus dem Gehirn waschen, die nicht per Discokugel und Stroboskop reingeflackert wurden. Aber Moment: Alles nicht so ernst? Gast Brian dreht sich um, wedelt mit dem Bingoschein und ruft: „Are you crazy, mate? Ist es doch! Volle Kanne!" Auf seinem Bingozettel sind ein paar Zahlen mit Edding geschwärzt, aber die Kästchen ziert auch ein großer, amateurhaft gestalteter Penis. Ob der Schein dadurch seine Gültigkeit verliert? „Quatsch, das ist der Joker", sagt Brian und dreht sich zur Bühne.

Dance-Off zu Miley Cyrus

Die Dramaturgie verlangt, dass bei jeder Veranstaltung zwei Teilnehmer „Bingo!" rufen können und zum finalen Stechen ranmüssen. Ein Endkampf vor allen anderen auf der Bühne, der per Stein-Schere-Papier ausgetragen wird; sollte das nicht reichen, muss ein Dance-Off zu Miley Cyrus her. Klar: Wer beim Rebel Bingo gewinnt, wird unsterblich sein. Wer verliert, hat vielleicht was fürs Leben gelernt, eher aber nicht. Zuerst müssen die Kandidaten noch zu korrektem Betragen auf der Bühne ermahnt werden: „Denkt daran", warnt der Moderator onkelig und legt seinen Arm um eine Kandidatin, „dass ihr auf der Bühne nicht ,Fuck' sagen dürft." Verwunderung, Schweigen, Spannung im Publikum: Echt jetzt? „Fuck you", verwandelt die Kandidatin schließlich traumwandlerisch.

Die Menge bricht in ein warmes, wunderbares Freitagabend-London-City-Grölen aus, das sofort gute Laune macht, wie tausend mit einer Burlesque-Tänzerin am Strand verbrachte Sommer am Stück. „Let's play Rrrrrrrebel Bingo!", ballert der Moderator hinterher, und im Publikum gibt es keinen Arm, der unten bleibt.

Bleibt nur noch die Frage, in welchem Seitenarm der Themse die beiden Liegestühle nachher enden werden.

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