Schlaf. Das ist der erste Gedanke, der einem in den Kopf kommt, wenn man den Mann sieht, der da vom Tourbus geschlappt kommt. Schlaf. Denn davon könnte der Mann ganz offensichtlich ein paar Stunden gebrauchen, eher Tage. Der Mann ist Steve Aoki, 39, lebende DJ-Legende, und man bereut sofort, ihn beim Crazy Sense Festival in Hannover erwischt zu haben, wo er sich, verkatert, maximal jetlagged und griesgramgesichtig hinter dem Gelände über einen Schotterplatz zum Termin quält.
Hannover? Nun, Aoki ist eben auf der Durchreise, hakt ein weiteres Set in seinem Terminkalender ab. Und mit Durchreise ist wirklich permanentes Unterwegssein gemeint. Direkt davor war er in Las Vegas, danach geht es weiter zu ein paar nach ihm benannten Signature-Events auf der Electro-Insel Ibiza, dann wieder ab nach New York - all dies natürlich alles andere als ungewöhnlich für gut gebuchte Star-DJs, die in der Regel mehr Bonusmeilen sammeln dürften als David Guetta Facebook-Fans hat. Dennoch ist bei Aoki etwas anders: Schießen sich die meisten seiner Kollegen ein paar Monate im Jahr raus, um weltweit in großen Hallen aufzutreten, lebt Aoki quasi in Flugzeug und Bus. Aoki ist on Tour - immer. Mit weit über 300 Shows im Jahr hat er ein beeindruckendes Pensum drauf. Seine Umtriebigkeit hat ihm allein von Juni 2015 bis Juni 2016 angeblich 23,5 Mio. Dollar in die Tasche gespült. Selbst im Bestverdiener-Dance-Sektor eine Zahl, die seine Kollegen beschämt in die eigene Banking-App linsen lässt. Wie macht er das? Hier sieben Learnings:
Steve Aoki ist Kind japanischer Einwanderer, und die lebten ihm früh eine Do-it-yourself-Haltung vor. Vater Rocky war nicht nur Gründer der Restaurantkette Benihana, sondern verdiente sich Nebenbei-Cash mit abwegigen Projekten: Bassist. Powerboat-Pilot. Wrestler. Softpornomagazin-Herausgeber. Wobei nichts davon so richtig Geld reinspülte, ihm aber wenigstens Aufmerksamkeit bescherte. Steve, der im College Soziologie und Feminismus-Studien belegte, denkt oft an das eher einfache Leben seiner Eltern. Auch deswegen hat er den Steve Aoki Charitable Fund gegründet, eine karitative Einrichtung, die weltweit Hilfsorganisationen unterstützt. „Ich mag eher schenken als Dinge bekommen", sagt er, ein müdes Lächeln im Gesicht. „Ich mag halt Weihnachten."
Aoki ist sich bewusst, dass er in einer beneidenswerten Situation ist: 75 Minuten performen, Millionen dafür einsacken. Wann kommt ihm Demut ins Bewusstsein? „Immer und immer wieder. Hier, jetzt, in diesem Moment. Ich habe einen leichten Kater, aber ich bin glücklich", sagt er. Easy, oder? Einfach mal mit einem kleinen bisschen Zen im Herzen in die Welt gucken. Und scheint die Sonne nicht auch ganz wunderbar?
Hier ist wohl die wichtigste Idee, die zentral für Aokis Schaffen ist: extrem on fire sein. Überstrapazierter, vom Partyset gerne bemühter Hedonismus-Ansatz: Du sollst dein Leben intensiv leben, so als wäre heute der letzte Tag. Das muss man Aoki nicht sagen. Der aber würde nicht Lines ziehen und die Magnum poppen, sondern auf Arbeit gehen.
Nicht umsonst ist im Herbst auf Netflix eine Doku über ihn erschienen mit dem Titel „I'll Sleep When I'm Dead" - aber selbst dann, kann man denken, wird sich der Mann noch für ein paar Gigs auf der anderen Seite bequatschen lassen. Den Machen-Modus stellt man nicht einfach so ab, nur weil man tot ist.
„Ich möchte eher den Madison Square Garden ausverkauft wissen, als dass ich einen Song oben in den Charts habe. Das hat für mich Prio eins." Jedem PR-Berater geht das Herz auf, wenn er sieht, wie Aoki den Kontakt zum Fan, zum Kunden pflegt. Dass man in schier endloser nächtlicher Regler-Dreherei ein Produkt auf die Straße gebracht hat? Wie schön.
Aber dann muss man raus und persönlich dafür einstehen. Aoki steht insofern dafür ein, dass er große Teile der Show von hinter dem Mischpult hervorkommt und mit nacktem Oberkörper vor den Fans in der ersten Reihe herumtanzt - die ihn für das Gehampel lieben.
Wenn man fast 40 ist, wird das mit dem Hampeln natürlich so eine Sache. Aoki hat dafür ein probates Gegenmittel: ein rigoroses Work-out-Programm, das er sich hat zusammenstellen lassen, das er unterwegs in Hotelzimmern, an Flughäfen und in Bussen absolvieren kann. Sieht man ihm an. Und wenn man ihn auf der Bühne erlebt, Sprung hier, Hüpfer da, hat man das Gefühl, dass große Teile der Show vom Fitnesscoach gleich mitkonzipiert wurden.
Aoki gilt in der Musikwelt natürlich erst mal als einer, der zu Beginn der Show ein Knöpfchen drückt und dann die nächste Stunde mit einem Sudoku verbringen könnte. Egal. Ruhig die Leute reden lassen, auch wenn sie einen als etwas erfolgreicheren Zirkusclown wahrnehmen, der allen Ernstes Torten ins Publikum wirft. Videospielmacher fragen, ob sie das Gesicht im Game verwenden dürfen? Klar. TV-Auftritte bei eher unambitionierten Serien? Immer. Stimme für den Animationsfilm leihen? Aoki hat schon den Stift zur Unterschrift in der Hand. Einfach machen und einsacken, sich anschließend über Relevanz freuen.
Fielen hier gerade die Wörter „Torten werfen"? Ja. Denn das ist das Fan-Highlight einer jeden Show: Aoki wirft aufwendig präpariertes Zuckergebäck ins Publikum. „Backstage kann alles fehlen, nur die Torten müssen da sein", sagt er. Und lächelt wieder so unbeschreiblich müde. Vielleicht ein schöner Ratschlag, dass man sich eine Marotte zulegen sollte, die unglaublich weit von allem Erwartbaren weg ist und das Kind im Erwachsenen glücklich macht. Und wer weiß, vielleicht passiert ihm bald endlich das, was man Kindern am Ende ereignisreicher Tage nachsagt: dass sie gut schlafen.
Der Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 06/2016 der Business Punk. Titelgeschichte: "Zalandos 20.000.000.000 Wette." Mehr Infos gibt es hier.