Nach der Entfernung eines Hirntumors wird Stefano Scola zum Rechengenie. 15 Sekunden braucht er, um Quadratwurzeln fünfstelliger Beträge zu ziehen -eine Eigenschaft, die ihm nicht nur Lebensfreude, sondern womöglich auch zusätzliche Lebenszeit verschafft
Es riecht nach Croissants und Es presso, so, wie er nur in Italien riecht. Das Klappern der Tassen schallt aus dem Besuchercafé über die Granitfliesen der Ein gangshalle. Es ist laut. Ein gelber Streifen auf dem Boden führt zum Informationsschalter, wo
ein Mann für eine Auskunft ansteht. Der rechte Ärmel seines Hemdes ist hochge krempelt, im Arm steckt ein Venenkathe ter. Eine Dame mit schneeweißem Pflaster über dem linken Auge humpelt bereits wieder Richtung Ausgang. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche herrscht im Bozner Krankenhaus ein Kommen und ein Gehen.
In der NeurochirurgieAbteilung ist es
ruhig. Kurze Blicke von fahlen Gesichtern
ziehen in Krankenbetten vorüber. Gelacht
wird wenig. Das Sterben gehört zum All
tag. Andreas Schwarz ist der Chefarzt die
ses Trakts. „Man warnt die Leute vor einer
Hirnoperation eher, dass sie eine Funktion
verlieren könnten“, sagt er. Etwas dazuzu
gewinnen, wie es bei Stefano Scola der Fall
war, sei hingegen höchst selten. „Es wird
wohl nie richtig zu verstehen sein, warum
er diese Fähigkeit entwickelt hat.“
Gestörte Idylle
Rückblick: Die Apfelblüte ist gerade vorbei, ein sattes Giftgrün bestimmt die Land schaft rund um das Zuhause von Stefano Scola. Hier, in Eppan an der Weinstraße, wenige Kilometer von Südtirols Landes hauptstadt Bozen entfernt, ist Anfang Mai 2013 alles gut. Die Idylle des frühlings haften Überetsch macht den 50Jährigen glücklich und zufrieden. Gibt es einen schöneren Ort auf dieser Welt? Im Winter arbeitet der ehemalige Skirennläufer ne
ben seiner Arbeit als Handelsvertreter als
Skilehrer. Jetzt, im Frühling, bleibt ihm
endlich mehr Zeit für seine Frau, Simona,
und die vier gemeinsamen Kinder, Rebec
ca, Rachele, Pietro und Geremia. Endlich
kann er wieder Tennis spielen oder mit
Simona um den Montiggler See spa
zieren – wäre da bloß nicht dieser Kopf
schmerz, der ihn schon seit Tagen von all
dem abhält. Eine, zwei, drei Wochen verge
hen, doch der dumpfe Schmerz will ein
fach nicht verschwinden. Ist es vielleicht
doch etwas Ernstes?
Der Tumor
Nebel hängt über dem Rosengarten, dem Berg, der für die dramatische Kulisse von Bozen verantwortlich ist – ohnehin also kein guter Tag zum Wandern, denkt Stefa no auf dem Weg ins Krankenhaus. Bis er neben gebrochenen Zehen, Platzwunden und entzündeten Blinddärmen dran kommt, vergehen Stunden, in denen er sich vor Sorge fühlt, „als würde mein Herz im Hals steckenbleiben“.
Es ist einer dieser Orte, an denen die Zeit stillsteht. Man kann nicht anders als hoffen und warten. Erst am frühen Abend – nach einer Computertomografie und Magnetresonanz – erklärt ihm der Radiologe, dass sein Kopfschmerz weder wetter noch stressbedingt ist. Stefano hat Krebs.
Zwei mal drei Zentimeter malignen Ge wächses würden sich durch seinen rechten Temporallappen fressen, erklärt man ihm. „Der hohe Cholinspiegel weist auf die Bös artigkeit des Tumors hin“, sagt Chefarzt Andreas Schwarz. „Er hat sich wohl aus einem niedriggradigen Gliom manligni siert, war also nicht von Anfang an bösar tig“, erklärt er nüchtern. „Wenn wir nichts
tun, bleiben Ihnen etwa sechs Monate.“ Stefano muss schlucken. Mit einer erfolg- reichen Operation und anschließender Therapie stünden die Chancen allerdings gut, „bei 15 bis 18 Monaten“.
Stefano ist nicht bereit, zu sterben. Er denkt an Simona, an Rebecca, Rachele, Pietro und Geremia und an das Skifahren. Er ist ein positiver Mensch. Positive Men- schen überleben den Krebs, weiß Stefano.
Drei Tage später entfernt Primar
Schwarz den Tumor im Gehirn seines Pati-
enten vollständig. Drei Stunden habe die
Operation gedauert, alles sei gut verlaufen
und daher keine Besonderheit für Schwarz.
Eine solche sollte in diesem Fall erst später
zum Vorschein kommen.
Inselbegabung
Warum Stefano eines Tages auf die Idee kam, sich mit Kopfrechnen abzulenken, kann er nicht sagen, „es passierte einfach“. Er war nie besonders gut oder besonders schlecht in Mathematik, aber auf einmal ging es ihm leicht von der Hand, und vor allem half es ihm, die negativen Gedanken in Bezug auf seine Krankheit auszublen- den. „Innerhalb von zehn Tagen wurde ich süchtig danach“, sagt Stefano. Pünktlich um vier Uhr früh haben ihn regelmäßig Geistesblitze geweckt. So fragte er sich ei- nes frühen Morgens: „Wir lesen von links nach rechts, wir schreiben von links nach rechts. Wenn wir einen Tisch abmessen, ziehen wir das Maßband von links nach rechts. Warum bitte schön rechnen wir nicht auch von links nach rechts?“ Er ging der Sache auf den Grund und fand für sich eine neue – seine – Art, zu rechnen. Und seither kann Stefano damit nicht mehr aufhören.
Gerade diese Eigenschaft deutet laut dem amerikanischen Psychiater Darold A. Treffert auf ein sogenanntes „Acquired Sa- vant Syndrome“ hin. Treffert beschreibt mit dem Begriff in seinen Studien rund 70 Fälle, in denen Inselbegabungen nicht genetisch, sondern nach Verletzungen des Gehirns oder des zentralen Nervensys- tems durch Unfälle, Operationen, Schlag- anfälle oder Demenz zum Vorschein kom- men. Begabungen im kreativen Bereich – in Musik, Kunst, Sprache oder Mathe- matik – sowie ein außergewöhnliches Gedächtnis treten besonders häufig auf. Sobald diese neue Fähigkeit ans Licht kommt, würde sie das persönliche Leben dieser Personen vereinnahmen und sie nicht mehr loslassen – so wie bei Stefano: „Es ist für mich nicht nur die Lust daran, es ist ein Drang. Ich muss rechnen, und ich
muss anderen zeigen, wie ich rechne“, sagt Scola. „Im Hinblick auf die Organisations- struktur des Gehirns ist eine solche Theo- rie gut vorstellbar“, sagt Chefarzt Andreas Schwarz, „durch die Operation könnte bei Scola ein ‚hemmendes‘ Areal für diese verborgenen Fähigkeiten entfernt worden sein.“ Man könne sich das etwa so vorstel- len wie ein modernes Flugzeug, erklärt Schwarz, „da gibt es Systeme, die greifen, wenn andere versagen“. Dadurch könnten Fähigkeiten zu Tage treten, die zuvor un- terdrückt waren. „Das wird hierfür auch die einzige Erklärung sein“, sagt Schwarz und macht zugleich keinen Hehl daraus, dass er von Vermutungen wie denen des Mentalcoaches Vincenzo Di Spazio nichts hält.
Dieser vermutet nämlich, dass die in-
tensive Beschäftigung mit dem Rechnen
dafür verantwortlich sein könnte, dass
Stefanos Tumor entgegen der Prognose
immer noch nicht zurückgekehrt sei. Ein-
deutig medizinisch belegen lässt sich
dieser Zusammenhang nicht. Dennoch ist
die Gabe mitverantwortlich für Scolas un-
glaubliche Lebensenergie: Sie gibt ihm
Hoffnung.
Ein Spiel
„Sie heißt Dobby.“ Stefanos jüngster Sohn dreht sich um, damit man das Gesicht der haarlosen Katze sehen kann, die über sei- ner Schulter hängt. Die Sphynx-Katze sieht tatsächlich so aus wie Harry Potters Haus- elf, dessen Namen sie trägt. Sie ist nicht das einzige Indiz dafür, dass es in diesem Haushalt mit etwas Magischem zugeht. Simona und die Kinder drängen in das auf- geräumte Wohnzimmer – dazwischen ein wahrlich strahlender Mensch: Stefano sieht aus, als käme er gerade aus dem Ur- laub. Die Narbe an seinem Kopf ist spärlich mit Haaren überwachsen. Viereinhalb Jah- re sind seit seiner Operation vergangen. Seitdem hat sich viel verändert.
Stefano grinst. Er hat allen Grund dazu. Egal, was Ärzte und Mentalcoaches mei- nen, für ihn ist klar: „Es ist Physik“, lacht er, „auf jede Aktion folgt eine Reaktion: Aus einer schlimmen Sache ist für mich eine Schöne geworden.“ Er will vor allem eines: seine Geschichte erzählen, um Men- schen mit einer ähnlichen Diagnose Hoff- nung zu geben. Denn nur mit Optimismus kann man dieser Krankheit trotzen. Er selbst sei das beste Beispiel dafür: Ende März 2018 ist schließlich noch immer alles gut. „Es ist für mich ein Spiel“, sagt Stefa- no, „und jetzt sag mir eine dreistellige Zahl, ich muss dir noch was zeigen!“
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