Der Philosophie-Professor Heiner Hastedt erklärt, warum Korruption auch im Umfeld bester Absichten geschehen kann, wann sie sich ausbreitet und wie man sie bekämpfen kann.
Interview von Agnes Striegan
In der politischen Berichterstattung und in Krimis kommt sie ständig vor: die Korruption. In der intellektuellen Auseinandersetzung dagegen kaum. Heiner Hastedt, Inhaber des Lehrstuhls für praktische Philosophie an der Universität Rostock, möchte das mit seinem neuen Buch "Macht der Korruption. Eine philosophische Spurensuche" ändern, das gerade in der Blauen Reihe des Meiner-Verlags erschienen ist (Hamburg 2020, 143 Seiten, 16,90 Euro).
SZ: Weshalb ist der philosophische Blick auf Korruption relevant?
Heiner Hastedt: Der philosophische Blick ist interessant wegen seiner Erklärungsfähigkeit. Ich bin in unterschiedlichen Ländern mit Korruption konfrontiert worden; zwischen Bestechung, Klientelpolitik und dem Konzept von "amae" in Japan als gemeinschaftlicher Geneigtheit ist die Spannweite groß. Das zu klären, ist interessant.
Sie verstehen Korruption als "Missbrauch von Macht zum partikularen Vorteil". Weshalb diese breite Definition?
Ich will ein Suchraster aufbauen, weg vom Denken: Korrupt sind die anderen, die Menschen in Afrika oder auf dem Balkan. Denken Sie an die Abrechnung von Pflegeleistungen in Deutschland, an das Geschäft mit dem Lebensende. Korruption kann im Umfeld bester Absichten geschehen. Ich möchte die Auseinandersetzung mit Missständen im Kumpel-Kapitalismus ermöglichen und zum Weiterdenken anregen.
Sie werfen auch der Wissenschaft, einschließlich der Philosophie, Korruption vor.
Korruption in der Wissenschaft hat viele Facetten: Drittmittel spielen eine große Rolle, Geld einnehmen ist bisweilen wichtiger als selbständig denken, die eigene Schule wird in den Mittelpunkt gerückt, andere Perspektiven werden eher unterbelichtet. Ich möchte aber keine Demaskierung in alle Richtungen betreiben. In ihren Grauzonen berührt Korruption das Allzumenschliche.
Korruptionskritik könne sogar den Weg in den Totalitarismus ebnen, warnen Sie: Wenn angeblich alle korrupt sind, lasse sich die Sehnsucht nach einem starken, nicht korrupten Führer wecken. Wie geht gute Korruptionskritik?
Gute Korruptionskritik ist differenzierte Korruptionskritik. Sie rechnet mit menschlicher Schwäche und schafft Anreize für ein gutes Miteinander. Überzogene Moralisierung führt in eine Sackgasse.
Ihrem Buch zufolge soll Moralität im Verbund mit Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit aber schon helfen, Korruption zu überwinden.
Der moralische Impuls ist wichtig als Einstieg, er sorgt für Empörung. Empörung ist aber ambivalent und kann gefährlich sein. Hier kommt die Rechtsstaatlichkeit ins Spiel mit ihrer klaren Definition dessen, was strafrechtlich relevant ist. Das Recht kann allerdings auch dazu dienen, auszutricksen, und es kann ausgenutzt werden. Deshalb bedarf es der Sittlichkeit als Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten. Kein "Das haben wir immer schon so gemacht", sondern dynamisch gedacht: Gesellschaften haben die Chance, sich in gewissem Maße zu entwickeln und von einem Leben mit weniger Korruption zu profitieren.
Ist diese Trias - Moralität, Rechtsstaatlichkeit, Sittlichkeit - nicht überall angebracht, wo gesellschaftliche Veränderung bewirkt werden soll?
Ja, das habe ich mir beim Schreiben meines Buches auch gedacht. Nehmen wir das Klimathema: Moralisierung ist ein wichtiger Einstiegspunkt; hier verorte ich Greta Thunberg. Aber daraus wird keine Weltverbesserungsstrategie. Für das Konkrete, Handwerkliche brauchen wir politisch und ökonomisch viele einzelne Schritte von Menschen, die ermutigt durch rechtliche Bedingungen die Selbstverständlichkeiten ihres Lebensstils verändern.
Und wie kann Korruption nun konkret bekämpft werden?
Entscheidungsfreiheit kombiniert mit Haftung; das Vier-Augen-Prinzip; überhaupt die Vermeidung von Monopolen; spektakuläre Strafverfolgung in großen Fällen. Korruption breitet sich aus, wenn Organisationszynismus herrscht.
Was heißt das?
Der Eindruck, dass es unfair zugeht, reicht, damit Menschen sich berechtigt fühlen, zu nehmen, was ihnen vermeintlich zusteht. Fehlende Verantwortlichkeit und fehlende Kooperation sind der Nährboden der Korruption. Dabei ist es illusorisch, allein auf Kontrolle setzen zu wollen. Aber es gibt nicht die eine, ganz große Lösung. Und etwas zu kritisieren, ist nicht gleich, es besser zu machen. Elitenkritik ist wichtig; gute Regeln aufzustellen, die auch eingehalten werden, die Herausforderung. Dies gilt ebenso für die Gestaltung des Bankensystems wie der Wissenschaft. Mir ist wichtig, Vermeidung von Korruption nicht nur in Sonntagsreden zu fordern. In Kenntnis menschlicher Abgründe muss es sich auf die Dauer lohnen, der Gelegenheit zur Korruption zu widerstehen.
Sie schreiben, von Korruption zu sprechen, heiße gleichzeitig, diese zu kritisieren. Weshalb ist Korruption eigentlich schlecht?
Korruption schädigt die Allgemeinheit. Ohne Korruption ginge es Menschen, Firmen, Ländern besser. Korruption ist teuer. Korruption unterminiert Kooperation. Und Korruption setzt falsche Leistungsanreize: Clever ist, wer die Bestechlichkeit gut beherrscht.
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