Als Sohn eines Philosophen ist Maxim Kantor im Schoss der sowjetrussischen dissidenten Intelligenz aufgewachsen. Deren Mentalitätswandel nach 1991 hat er hautnah verfolgt. Nun liegt mit "Rotes Licht" erstmals auf Deutsch ein Buch des Autors vor, ein wilder Roman des irren 20. Jahrhunderts. Ein Treffen.
Gleich zu Beginn liegt der Vater in Moskau im Sterben, derweilen draussen in der nicht allzu weiten Welt der Krieg um den Donbass tobt. Der nahende Tod tilgt "alles Überflüssige aus seinem Gesicht", und er erinnert sich an sein eigenes "Jahrhundert der Extreme". Dieser Ausdruck von Eric Hobsbawm ist angemessen, besprach doch der Sohn Maxim Kantor mit dem britischen Starhistoriker nicht nur häufig seinen gewaltigen Stoff, sondern fühlte sich überdies bei dessen schwarzhumorigen Prognosen an den Vater erinnert, der nicht wie im Roman 2014, sondern bereits 2007 verstarb.
Es geht um Aufstieg und Fall des Kommunismus, um Stalins Grossen Terror, Hitler, den Zweiten Weltkrieg, um die Perestroika und den Zerfall der Sowjetunion, die Herrschaft der Oligarchen und den Auftritt Putins. Dem Leser vor Augen geführt wird ebenso die Tragödie der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, als der Vater seine Brüder verlor, wie die Farce der prorussischen internationalen Freiwilligenverbände in der Ostukraine.
Mephisto geistert wieder herumWie seine Farben trägt Kantor auch Geschichte gern opulent auf, wobei er mitunter die Grenze zur Überorchestrierung streift, wenn nicht überschreitet, zumal sein umfangreicher Roman mit einer Mephisto-Gestalt auch ins Phantastische umschlägt und sich geschichtsphilosophischer Spekulation nicht verweigert. Letzteres reiht sich ein in die russische Tradition der essayistischen Erzählung, wie sie etwa Wassili Grossman in "Alles fliesst" gehandhabt hat.
Mit dem Philosophen Vittorio Hösle stehe ich auf Einladung von Maxim Kantor vor zwei grossformatigen Gemälden, "Bibliothek" und "Arche", die im Berliner Auswärtigen Amt hängen. Die spiralförmig sich ausbreitende Bibliothek, die sowohl an den biblischen Turm von Babel wie an die Bibliothek von Jorge Luis Borges erinnert, ist belebt mit historischen Figuren wie Platon, Sokrates und Kant, aber auch mit literarischen Gestalten wie Don Quijote. An zentraler Stelle studiert Kantors Vater Goethes "Faust". Die Bibliothek erscheint als Heimat und Utopie, aber auch als ein Ort der Hybris.
Auf dem zweiten Gemälde, "Arche", auf dem der Vater auch wieder seinen Auftritt hat, durchkreuzt das Schiff Europa den Sturm der Zeiten. Auffällig sind auch hier die ungemein lebendigen Augen und der zuweilen reliefartige zentimeterdicke Farbauftrag. Die Gemälde besitzen eine Kraft, die man sich geistig aneignen muss. Hösle meint, dass nach den zahlreichen Brüchen der russischen Geschichte nicht zufällig ein Künstler aus Moskau so entschieden auftritt im Kampf gegen eine zunehmend entleerte Kunst.
Befreundet sind der Philosoph und der Künstler seit 1990, als Vittorio Hösle die sowjetrussische Intelligenzia kurz vor ihrem Verschwinden kennenlernte. Als Sohn des Philosophen Karl Kantor bewegte sich der kleine Maxim in deren Biotop. Enge Freunde des Vaters waren der Philosoph Merab Mamardaschwili und der Schriftsteller Alexander Sinowjew. Alle waren sie Aussenseiter, fern von Partei und Staat.
Intellektuelles Feuerwerk"Alle verbanden Armut und Noblesse", sagt Maxim Kantor in seiner Berliner Wohnung. Seine Erinnerungen an die Vergangenheit sind mehr familiär als sowjetisch geprägt, denn er war niemals Pionier oder Komsomolze bei der KP-Jugendorganisation. Die Eltern hatten weder Zeitungen, noch besassen sie einen Fernseher. Maxim wuchs auf mit Platon und Shakespeare, Beethoven und Bach. Neben der Klassik gab es höchstens noch Liedermacher wie Wladimir Wyssotzki oder Alexander Galitsch. "Mein Vater auferlegte sich die Medienabstinenz für mich und als Rache am System. Ich wuchs auf in einer Bibliothek - sie ist meine Heimat. Wenn mein Vater und seine Freunde redeten, war das ein geistiges Feuerwerk. Sie sprachen aus jahrzehntelanger Vertrautheit, es war atemberaubend."
Aber Maxim Kantor weiss auch um die Schattenseiten dieses intellektuellen Nischendaseins. Keines der Werke der Angehörigen dieses Zirkels, so glaubt er, wird überleben, nicht zuletzt darum, weil sie keine gesellschaftsverändernden Ideen entwickelten. Dennoch ist er dankbar, unter Menschen gross geworden zu sein, die ihm einen moralischen Kompass gaben, eine konsequente Ethik vorlebten und dadurch seine Widerstandskraft weckten und stärkten. Dass es solche Kreise gab, zeigt, dass die Sowjetunion damals kein totalitärer Staat mehr war. Bezeichnenderweise lässt Hannah Arendt diesen im Jahre 1956 enden, Maxim Kantor kam 1957 zur Welt.
Wie aber nimmt Maxim Kantor die heutigen russischen Intellektuellen wahr? Was verbindet, was trennt sie von der alten Intelligenzia? "Die jüngere Generation verneinte den Moralismus der sowjetischen Intelligenzia, sie wollte eine neue, kapitalistisch orientierte Gesellschaft aufbauen. Ob sie sich dabei die Hände schmutzig machte, war ihr mehr oder weniger egal." Von Anfang an begleitete er die Entwicklung kritisch. "In den neunziger Jahren entstand in Russland ein neuer Feudalismus. Das wurde natürlich nicht transparent gemacht, es hiess: Wir bauen eine Demokratie, eine offene Gesellschaft auf. Wenige, nicht mehr als hundert Superreiche, die wussten, wie man sich am Volksgut vergreift, teilten das Land unter sich auf. Das Leben war freier als in der kommunistischen Kaserne, aber es ging schwanger mit einem künftigen Faschismus."
Kantors Eule der Minerva fliegt nicht erst in der Abenddämmerung, wenn die zu erklärenden Dinge grau und alt geworden sind, sondern mit vorausahnender Hellsicht. Angesichts von Gorbatschows Scheitern mahnte er bereits 1991 in einem Essay, was in Russland heranwachse, sei getrieben "von der Stimme des Blutes, und es fordert Blut. Es schlief unter dem ideologisierten Bewusstsein und kommt nun zum Vorschein. Es ähnelt dem, was in Deutschland in den dreissiger Jahren entstand."
Doppelspiel der OligarchenWarum aber erkannten dies nur wenige? "Die Intellektuellen arbeiten für Oligarchen, die sich gegenseitig konkurrenzierten. Sie verdienten viel, weit mehr als zu kommunistischen Zeiten. Ihre Aufgabe war es zu verhindern, dass der Kommunismus zurückkehrt. Es waren die Oligarchen, welche die Kritik der Vergangenheit finanzierten, am Marxismus, an Stalin, am Gulag und an der KP. Viele Intellektuelle arbeiteten ohnehin daran, schliesslich war es gerade noch verboten gewesen. Und viele machten das auch gut."
Zur gleichen Zeit geschah in Russland neues Unrecht - vom Krieg in Tschetschenien über die Ausplünderung der Bevölkerung bis zur Aufteilung des Landes in neofeudale Strukturen. Wo sich die meisten gedanklich über die Vergangenheit beugten, blickten nur wenige auf die Gegenwart. "Die historischen Verbrechen wurden so dargestellt, dass daraus keine Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen waren. Ein Oligarch ging seinen Raubzügen nach, liess sich Kritik am Gulag etwas kosten und verkündete: Nie wieder! Wenn man einen ihrer intellektuellen Diener fragte, warum sie für diese Monster arbeiten, antworteten sie gleich: ‹Ah, du bist für Stalin.› - ‹Nein, ich bin gegen die neuen Monster.› - ‹Ah, du bist für den Diktator.› - ‹Nein, bei Stalin sind wir uns einig, aber schau doch, für wenn du arbeitest.› Heute klingt das einfach, aber damals war es kompliziert. So wurden diese Intellektuellen zu neuen Politkommissaren."
Spätestens seit Maxim Kantor 1997 auf der 47. Biennale in Venedig mit einer Einzelausstellung Russland repräsentierte, avancierte er zum international anerkannten Künstler. Bereits seit Ende der achtziger Jahre malt, zeichnet, modelliert und schreibt er in Frankreich, Deutschland, Grossbritannien und den USA. Viele seiner Arbeiten hängen in bekannten Häusern wie dem Puschkin-Museum oder dem Pembroke College. Er erhielt Aufträge vom Vatikan, von amerikanischen Universitäten, dem deutschen Auswärtigen Amt. Hier hängen die besagten zwei Gemälde im zentralen Saal, der nach Aussenminister Genscher benannt ist. Dieser hatte Kantor 1988 die Ausreise nach Westeuropa ermöglicht.
Kantor betrachtet sich nicht als russischen Emigranten und ist auch nicht Teil der russischen Community - weder in Berlin noch in London. Gerade an der Themse meidet er seine Landsleute, weil es unter ihnen Diebe und Gauner grösseren Stils gebe. In Argentinien hat er Verwandte, also da, wo sein Vater geboren wurde, bevor er als Kind mit den Eltern in die Sowjetunion kam. Gegenwärtig lebt er vorwiegend in Oxford und auf der Ile de Ré, teilweise in Berlin, aber nicht mehr in Moskau. Allerdings erschien dort 2017 sein neuer Roman, ein Utopia unserer Zeit.
Auf dem Weg in eine neue DiktaturWar aber Putins Amtsantritt nach den Wirren der neunziger Jahre nicht eine Erleichterung? "Heute pflegt man in Russland die neunziger Jahre zu dämonisieren, aber der grosse Machtpoker begann erst nach 2000. Oligarchen wie Beresowski protegierten Putin und seine KGB-Truppe. Es war ein zynischer Akt, dass sie in Missachtung der aufklärerischen Grosstaten von Solschenizyn, Sacharow und Sinowjew einen KGB-Offizier einluden, Russland zu regieren."
Maxim Kantor bezeichnete Putin schon zu Beginn von dessen erster Amtszeit als grosse Gefahr; in seinem ersten Roman "Zeichenlehrbuch" beschrieb er ihn als künftigen Diktator. In seinen Bildbänden "New Empire" oder "Das neue Bestiarium", gestaltet in der Tradition politischer Kunst von Goya bis Beckmann, erscheint Putin als grünliches Skelettmonster, das in einer immer düsterer werdenden Realität sein Unwesen treibt.
Anfangs widersprachen viele Liberale Kantor, glaubten in Putin einen neuen Augustus zu erkennen, den römischen Kaiser also, der Cäsars Erbe antrat und entfaltete. "Putin wollte sein Stück vom Kuchen, und das Stück wurde grösser und grösser. Früher oder später zog er wie jeder russische Tyrann die Karte des Patriotismus. Es entstand ein neuer Faschismus. Es ist dies ein qualvoller Befund, aber ich bestehe auf dieser Einschätzung. Faschismus ist nicht beschränkt auf das 20. Jahrhundert und ein Virus, das unter bestimmten Verhältnissen überall ausbrechen kann. Er geht einher mit einem Retro-Imperium, also keinem richtigen, wie Rom es war, sondern einem nostalgischen. Die Menschen werden geeint im Zeichen von Nation, Blut und Nostalgie. Gedemütigte Massen sind eine Gefahr; sie sind für den Krieg das, was trockenes Holz für das Feuer ist."
So liess er den Roman "Rotes Licht" zunächst mit einem fiktiven Krieg beginnen. Als der reale Krieg in der Ukraine losbrach, brachte er in etliche Szenen diesen Hintergrund mit ein. Kantor sieht die Annexion der Krim keineswegs als Affekttat. "Putin und seine KGB-Freunde gingen zynisch und nüchtern vor. Sie erkannten und nutzten die Chance, sich mit der Heimholung der Halbinsel langfristig die Macht im Kreml zu sichern. So wurde Putin zum vermeintlich starken Vater der russischen Nation."
"Rotes Licht" kann als von irrwitzigen Episoden funkelnder Roman dreier Generationen und als dunkles Panorama eines moralisch zerrütteten Jahrhunderts gut für sich allein stehen. Doch das Werk Maxim Kantors entfaltet sich erst vollständig, wenn man das Zusammenspiel von Bild, Erzählung und Essay betrachtet. Hinzu kommen Theaterstücke, Puppenspiele sowie genreübergreifende Bild-Musik-Projekte, etwa mit dem Geiger Gidon Kremer. In der Verbindung von Malerei und Erzählung, Realismus und Phantastik, Normalität und Wahnsinn ist Kantors Schaffen einzigartig. Sein Ziel ist es, moralisch-aufklärerisch auf die Gesellschaft einzuwirken. Der Traum der kritischen humanistischen Intelligenz ist auch in Russland noch lange nicht ausgeträumt.